Carl Schuchhardt: Rethra, das große slavische Heiligtum


Rethra, das große slavische Heiligtum (PDF)
Von Prof. Dr. C. Schuchhardt-Berlin.

Digitalisiert durch: rethra.wordpress.com

Vor der Zeit, wo Arkona auf dem entlegenen Rügen seine Rolle als letztes heidnisches Bollwerk in Deutschland spielte, hatte ein viel bedeutenderes Heiligtum weitgebietend auf dem Festlande bestanden: Rethra im Gau der Redarier, östlich der Tollense, im mecklenburgischen Lande Stargard.

Es war dem Christentum Jahrhunderte lang ein Dorn im Auge gewesen. Denn aller Widerstand gegen die Bekehrungsversuche, alle Rückfälle nach scheinbaren Erfolgen, alle Anzettelungen gegen die deutsche Elblinie gingen immer wieder von dem fanatischen Rethra aus. Rethra war das Bundesheiligtum der ganzen slavischen Völker zwischen Elbe und Oder, und seine Priesterschaft muß eine ähnliche Stellung eingenommen haben wie die von Delphi in Griechenland. Die Orakel von Rethra wurden weithin benutzt, selbst von christlichen dänischen Königen, die dann goldene Becher nach Rethra stifteten. Die Fahnen aller zugehörigen Slavenstämme wurden in Rethra aufbewahrt, und die oberste Entscheidung über Krieg und Frieden lag in den Händen der Priesterschaft.

Schon im Jahre 983 hatte der Obotritenfürst Mistivoi, den die Sachsen schwer beleidigt hatten, sich hinter die Priesterschaft von Rethra gesteckt und so einen allgemeinen Aufstand gegen die Christen zustande gebracht. Als im Jahre 1050 zwei böhmische Mönche ins Wendenland kamen, um das Christentum zu predigen, wurden sie in Rethra erschlagen. Das Schlimmste geschah im Jahre 1066, wo wieder eine allgemeine Empörung ausgebrochen war. Die Slaven eroberten die Mikilinburg – den heute noch zwischen Schwerin und Wismar erhaltenen großen Ringwall, der dem Lande den Namen gegeben hat -, schleppten den dort residierenden alten Bischof Johannes weg und opferten ihn in Rethra in grausamer Weise ihren Götzen. Diese Untat sollte in einem großen Rachezuge geahndet werden, und da der junge Heinrich IV. noch ein Knabe war, erhielt der tatkräftige Bischof Burchard von Halberstadt den Oberbefehl. Er zog offenbar zur Winterszeit, wo Sümpfe und Seen gefroren waren, ins Lutizenland, eroberte und zerstörte Rethra und ritt auf dem heiligen Pferde des Gottes an der Spitze seines Heeres ins Sachsenland zurück.

Durch diese und andere Taten war Herr Burchard ein weltbekannter Mann geworden. Noch heute erklingt in Niederdeutschland ein Kinderreim, der offenbar die große Tempelbeute von Rethra im Auge hat:

Buko von Halberstadt,
Bring doch meinem Kinde wat!
„Wat sall ik em denn bringen?“
Goldne Schoh mit Ringen!

Natürlich war seit dem Erwachen des Humanismus die Neugierde groß, wo dies mächtige slavische Heiligtum gelegen habe. Im Jahre 1519 hat ein Rostocker Professor den Reigen der Suchenden eröffnet, und fast genau 400 Jahre hat es gedauert, bis die Auffindung wirklich gelang.

Die Urbs tricornis aus der Vogelschau

Die Urbs tricornis aus der Vogelschau

Im Winter 1913 auf 14 hatte die Preußische Akademie der Wissenschaften mir aus der Wentzel-Heckmann-Stiftung auf mehrere Jahre hinaus die Mittel bewilligt für germanisch-slavische Altertumsforschung“. Beabsichtigt war, die Burgen, die das Rückgrat aller Altertumsforschung sind, in Ostdeutschland anzufassen, für die germanischen die Ursprungsform um 500 oder 1000 v. Chr. festzustellen und im slavischen Kreise besonders die Tempelburg Arkona aufzuklären und von ihr aus, wenn das Glück gut wäre, mit den neuen Erkenntnissen vielleicht das Rethra-Rätsel zu lösen.

Der Krieg machte zunächst einen großen Querstrich. Man konnte in Deutschland der notwendigsten Landarbeit keinen Mann entziehen, und außerdem durfte der Archäologe die Gelegenheit nicht verpassen in den ungeahnt zur Verfügung stehenden Gebieten von Polen und Rumänien zu forschen.

Nach dem Kriege aber traf es sich nun sehr glücklich, daß mein Jugendfreund Robert Koldewey, seit 1917 aus Babylon vertrieben, mit Freuden bereit war, die neuen deutschen Unternehmungen, die ja stark auf Architektur abzielten, mitzumachen. So haben wir vier Sommer 1919-1922 miteinander gegraben; zuerst nur Vorstudien gemacht für die Hauptaufgabe, 1921 aber Arkona ausgegraben und den slavischen Tempel als großes Quadrat von 20 x 20 m mit 4 Säulen im Innern und der Standspur des Swantewit-Bildes gefunden, ganz so wie es Saxo Grammaticus 1168 beschreibt, – und 1922 dann tatsächlich Rethra feststellen können.

Die Wendung zu diesem glücklichen Ereignisse war durch einen sehr einfachen Anstoß erfolgt. Dem Bischof Thietmar von Merseburg (+1017) verdanken wir die besten Nachrichten über Rethra. Thietmar, ein Graf von Walbeck, war mit dem sächsischen Kaiserhause verwandt und mit Heinrich II. eng befreundet. Er hat dessen Kriegszüge ins Slavenland und gegen Polen regelmäßig mitgemacht. Dabei ist einmal eine Hilfstruppe der Lutizen zu dem kaiserlichen Heere gestoßen, um gegen den gemeinsamen Feind Boleslaw mitzuziehen. Bei dieser Gelegenheit schildert Thietmar in seinen Memoiren Rethra und die ganzen dortigen Verhältnisse. Er hat es sich also von den berufensten Leuten selbst erzählen lassen.

Rethra, sagt Thietmar, sei eine „urbs tricornis tres in se continens portas“, eine „dreihörnige“ Burg mit drei Toren. Gegen Osten falle sie steil zu einem großen See ab, im Westen sei sie von einem dicken Urwaldgürtel umgeben. Von den drei Toren führten zwei landeinwärts, das dritte, welches das kleinste sei, aber zum See hinunter.

Der springende Punkt ist die „urbs tricornis“. Die verschiedene Auffassung dieses Begriffs erklärt die so lange vergebliche und dann plötzliche erfolgreiche Suche nach dem großen Heiligtum. Man hatte früher sowohl urbs wie tricornis falsch verstanden: urbs sollte eine Siedlung, Stadt oder auch ganzen Gau bedeuten, tricornis geometrisch „dreieckig“; cornu, „Horn“, meinte man, sei ein Werder, wie an der Havel die vielen Ziegenhorn, Schildhorn, Bestehorn. In der urbs tricornis sah man also eine dreizipflige Insel und grub allmählich, besonders in der Zeit von 1880 bis 1908, alle Inseln in mecklenburgischen Seen ab, die ungefähr solche Gestalt hatten, um schließlich betrübt zu bekennen, daß das Rethraheiligtum nirgends zu erkennen sei.

Demgegenüber war mir von vornherein klar, daß urbs nach dem Sprachgebrauch und nach der Kultur der Zeit eine Burg, eine Befestigung auf einem Berge sei. „Dreihörnig“ aber nennt sie Thietmar, der witzige Wortspieler, in Anlehnung an die boves tricornes des Plinius. Die Hörner ragen nicht wagerecht ins Wasser, sondern senkrecht in die Höhe. Sie erklären sich aus den drei Toren, die die Burg hat. Bei den slavischen und überhaupt mittelalterlichen Befestigungen sind die Tortürme erheblich höher als die Mauertürme. So ist eine urbs tricornis tres in se continens portas eine Burg mit drei Tortürmen, die von weitem gesehen wie ein Dreizack wirkte.

Mit dieser neuen Auffassung ging ich ins Gelände, verschaffte mir einen Ueberblick über die im Lande Stargard vorhandenen alten Ringwälle und fand auf dem Schloßberge bei Feldberg eine Anlage, die den Anforderungen entsprach. Oestlich fällt sie steil 36 m zum Großen Lucin-See ab, westlich ist sie noch heute stundenweit von einem prachtvollen Buchenwalde auf wildem Moränenboden umgürtet. In dem erhaltenen Wall waren ohne weiteres zwei Tore zu erkennen, eins in der Nord-, das andere in der Südspitze. Das dritte mußte durch Ausgrabung gesucht werden und war in der Mitte der Westseite, nach dem Lande zu zu erwarten. Denn ein großer Vorwall, der in weitem Bogen um den Fuß der ragenden Burg sich zieht, hat alle drei Tore noch wohl erhalten: je eins in der Nord- und Südspitze und eins in der Mitte der Westseite.

Unsere Grabung ist dann vom 1. bis 15. Oktober 1922 erfolgt. Die drei Tore ergaben sich ohne Schwierigkeit. Sie waren als Holzbauten verbrannt und hatten dicke Holzkohleschichten hinterlassen. Die Fundamente aus Findlingen zeigten aber tief im Boden die Gestalt der einzelnen. Das Westtor war das größte. Von der künstlichen Terrasse, die sich um die oberste Burgkuppe, 5 m unter ihr, herumzieht, geht der Weg in diesem Tore hinauf – ähnlich wie bei den Propyläen von Athen – so daß das Tor 20 m lang ist. Seine Weite beträgt 4 m. Ebenfalls 4 m weit und etwa 6 oder 8 m lang ist das Nordtor. Zuletzt schnitten wir das Osttor an, das nach dem Wasser führt und hier ergab sich die schlagende Uebereinstimmung mit Thietmar, dies Tor war nur 1,45 m weit und 5 m lang. Das ist die „tercia porta quae minima est et tramitiem ad mare, …. praebet.

Von der Wallmauer waren nur wenige Fundamentspuren übrig. Vom Tempel war nur zu erkennen, daß er in der Achse des großen vom Westen heraufführenden Weges gelegen hat. Für die Bettung seiner Holzschwellen war der Moränenschotter abgeglichen und Lücken mit gelegten Steinen ausgefüllt, aber ein genaues Maß war nicht zu gewinnen.

Neben den Toren fanden sich rechts und links tiefe Hausgruben. Die neben dem großen Westtore waren sehr lang. Sie werden nicht bloß die Wohnungen der Priester, sondern auch die alten Schatzgruben anzeigen. Aber sie enthielten heute nur noch slavische Topfscherben und Tierknochen. Das Gold und Silber scheint Buko von Halberstadt restlos mitgenommen zu haben.

Die Oberfläche der Burg ist nicht sehr groß, nur 115 m lang und 45 m breit, aber das Vorgelände bis zum Außenwall faßt bequem gegen 10 000 Menschen.

Die Bedeutung des ganzen Fundes besteht darin, daß wir neben Arkona nun noch ein zweites und weit älteres Heiligtum in vollem Bilde wiedergewinnen. Sie liegen beide auf einem gegen Osten vorspringenden Kap, und der Tempel ist an die Ostseite vorgeschoben, die im übrigen frei ist. Der erste Strahl der Morgensonne muß ihn über das weite Wasser her treffen. Der alte Sonnenkultus spricht sich deutlich aus.

Die Rethraburg liegt fast so hoch über dem Spiegel des Lucin-Sees wie Arkona über dem der Ostsee, jene 36, diese 42 m. Rethra wirkt aber in dem mächtigen Aufbau seines Moränenkegels vom Lande her noch weit imposanter als Arkona. „Die Akropolis des Nordens“ nannte sie einer unserer Freunde beim ersten überraschenden Herantreten.

Robert Koldewey hat die hier wiedergegebene Ansicht aus der Vogelschau gezeichnet, um die Wirkung der dreihörnigen Burg vor der großen Wasserfläche darzustellen. Es ist seine letzte Zeichnung gewesen. Nachher hat er die Feder nicht mehr angerührt[1].

Schuchhardt, Prof. Dr. Carl: Rethra, das große slavische Heiligtum, in: Forschungen und Fortschritte, Korrespondenzblatt der deutschen Wissenschaft und Technik, 2. Jahrgang, Nummer 21, Berlin 1. November 1926 S. 178-179

Digitalisiert durch: rethra.wordpress.com

[1]    Die ausführliche Publikation ist soeben als 2. Auflage meiner Akademie-Aufsätze „Arkona, Rethra, Vineta“ im Verlage H. Schoetz & Co. erschienen.

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