Florian Eduard Mann: Vierte Etappe des Feldzuges, Retra, Name und Lage (Auszug) PDF
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An den Nebel von Osten her stieß ein Land mit einem besonders merkwürdigen Namen: Cyrspanie, zu erklären aus czres-panim = trans Panam, d.h. jenseits der Peene. Quandt, Blt. Std. 22 gibt die Formen zcirizspani 955, zerezepani 965, zirzipani 973, circipani bei Adam und Helmold, cyrzipenenses bei Saxo. Die Landschaft reichte (nach Qu.) nur bis an und der Name bezieht sich nur bis auf das Stück der Peene bis Demmin, das vorwiegend nördliche Richtung hat. Doch wird der Name auch bis auf den Mündungsarm Peene bezogen, der wiederum nach N. geht. Die Cyrspanier sind eine Zeitlang der wichtigste der Volksstämme des Retrabundes und kämpfen z.B. 955 an der Raxa gegen König Otto I. Sie sind der Hauptteil der östlichen Obdriten und ihr Name scheint für diesen ganzen Osten zu stehn, da, wo der Name Obdriten selbst nur auf den Westen bezogen wird. Es ist klar, daß dieser Name im Rol. umgedeutet ist und dem Namen Espagne, Hispania, zugrunde liegt.
Noch bemerkenswerter vielleicht ist der Ort Cordres und seine Lage. Nach v. 71 belagert Karl Cordres la citet vor der Verhandlung mit Marsilies; er nimmt es ein nach v. 97. V(4) hat Cordra, V(7)C hat Cordes und dR. Corderes, die Namensform ist also schwankend. Es muß ein wichtiger Ort gewesen sein. Ein selbständiges Epos erzählt la Prise de Cordres, die Einnahme von Cordres; doch ist es sehr spät und bleibt deshalb besser zunächst unbeachtet, so daß man sich nur an das Rol. selbst hält bei der Untersuchung. Wohin ist nun der Ort zu bringen? Co ist eine slav. Vorsilbe bei Ortsnamen, die auch fehlen, abgeworfen werden kann. Solche Vorsilben sind z.B. co (ku, g) s, pod. Der Ort Kaarßen im Amt Neuhaus, nahe der Elbe, ist ein historisches Beispiel, denn er wird 954 (Widukind 3, 50, 52) als Cocarescem, die herzogliche Burg der Cocarescemii im Lande Wanceburg genannt (vgl. Qu. Blt. Std. 22, S. 226, u. Anm. 58). Fällt die Vorsilbe fort, so bleibt Rdres oder Rdre, und dies ist leicht zu erraten als identisch mit Retra, in welchem Namen statt t sehr häufig d steht (Helmold hat Riadri und Rederi als den Volksnamen). Die historische Bedeutung von Retra entspricht derjenigen im Rol. Aber wo lag Retra? Diese dornenvolle Frage ist immer noch ungelöst. In der Retra-Kommission der anthropol. Gesellschaft ist als letzte Hypothese der Liepsee, die südliche Fortsetzung des Tollensesees, genannt; doch wenn da auch ein Wendentempel gestanden haben mag, so kann es doch aus mancherlei Gründen nicht Retra gewesen sein, die sich aus folgendem von selbst ergeben werden.
Im Namen Retre muß die zweite Silbe zunächst Aufmerksamkeit erwecken. Im Rol. heißt der Heiden mächtigster, meistgenannter Gott Tervagan und dies ist sicher gleich trebogan Dreigott. Nun wird in der einen Beschreibung, die wir von Retre besitzen, von Thietmar (6, 17, 18) erzählt, daß im Gau Riedirierun die urbs Riedegast sei, überall von Wald umgeben, dreieckig mit drei Toren, von denen zwei offen seien, das dritte zum nahegelegenen Meer (mare) führe. In ihr sei nur ein künstlich aus Holz zusammengefügter Tempel, mit Göttern in Bildsäulen, deren vornehmster Zuarasici sei, den vor allem sämtliche Heiden verehren. Weiter: soviel regiones, soviel templa, unter ihnen Riedegast die vornehmste civitas. Adam Bremensis, 2, 18, sagt, die civitas habe neun Tore und um sie herum sei ein tiefer See, mit Holzbrücken. Sie sei vier Tagereisen von Hamburg (von Hamburg nach Jumne seien sieben Tagereisen, 2, 19). Der Name des obersten der dort verehrten Götter sei Redigast (Radigast bei Helmold). Alfred gibt den Namen Redra Osti als Volksnamen (880). Radegast, Redigast, Riedegast sind als Namen offenbar mit Redra Osti identisch. In diesem Namen ist also die zweite Silbe auffällig und wie es scheint, gleich slav. tre drei, wie in trebogan. Deshalb hat man sich an Thietmars Dreiecksform, Dreizahl der Götter usw. zu halten. Sind aber drei Götter dort gewesen, so haben wir offenbar die Erklärung des trebogan, Tervagan, im Rol. Daraus müssen wir aber auch auf drei Völker schließen, die den Retra-Bund bilden, denn jeder Slavengott entspricht einem Volk (und einer Landschaft). Dann ist der Retra-Tempel an einer Stelle zu suchen, wo drei Völker zusammenstießen.
Auch die erste Silbe des Namens läßt sich wohl erklären. Sie zeigt die Formen Re, Rie und Ria. In der kaiserlichen Urkunde von 936 heißt es Riadri, die Form Ria ist also die bestbeglaubigte, von ihr ist auszugehn. Für i, j, steht aber in Namen von N.W.-Slavien auch w; beide, j und w tauschen ihren Platz (vgl. nur Julin, Jumne, und Wollin, Blt. Std. 22, S. 167, 5), Rwa aber ist das Grundwort in dem Namen Rügen. Quandt, Blt. Std. 22, S. 237, sagt: poln. rw = reißen, insonderheit von Wasser, davon prerwa Durchriß, zarwa ein durch den Fluß abgerissenes Stück, rwanie Riß, Spülung, also rwana (ziemia) das zerrissene Land usw. Er bezieht den Namen also auf die Zerrissenheit, er könnte sich aber auch auf das bloße Abgerissensein beziehn, dann also allgemeiner gleich „Insel“ sein.
Jedenfalls also liegt in dem Namen Rügen anerkanntermaßen dieses Wort vor. Die Rügener heißen Ruani, dann Rani und Runi, mit Verstummen des w und Roiani. Das Wort Rügen ist nicht hochdeutsch, sondern Rüjen zu sprechen, und diese Aussprache scheint noch genügend die phonetische Erklärung zu geben für jenen Wechsel zwischen w und j und alle diese Schreibungsvarianten. Wir können also Ria = rwa setzen, und dies = Abgerissenes oder zerrissenes Land, ungefähr = Inselland.
Auch die dritte Silbe gost läßt sich deuten. Sie ist identisch mit der Nachsilbe gost, in Orts- wie Personennamen häufig vorkommend und vielmals zu deuten versucht. Quandt, Blt. Std., erklärt sie in Ortsnamen durch Hinweis auf altpoln. chost, chast (jetzt chaszch) dichtes Gebüsch, in Personennamen durch Hinweis auf ungar. gazda Herr. Weisker, Slav. Sprachreste I, erklärt sie auch in vielen Ortsnamen durch gvozdi, tsch. hvozd, neufl. gozd dichter Wald. Bei anderen Ortsnamen nimmt er an, sie seien ursprünglich Personennamen und gost dann in ihnen = gosti, Gast. Vgl. auch Progr. Znaim 1890, S. 33. Die Verschiedenartigkeit dieser Namen auf gost läßt ja denken, daß mehrere Grundworte hier zusammengeflossen sind in der Form. Andererseits scheint doch, wenigstens vielfach, ein Grundwort vorzuliegen, das sowohl persönliche wie sachliche Bedeutung hatte, das zur Bildung sowohl von Orts- wie auch von Personennamen dienen konnte. Solch ein Wort liegt vor in dem deutschen Wort „Hort“, ahd. hort, got. huzd, ags. hord, verw. mit lat. custos, das dem slav. gost lautlich gut entspricht. Nimmt man diese Verwandtschaft an, so bedeutet gost den Tempelschatz, dann Tempel selbst, zugleich aber auch figürlich einen geschätzten Menschen, einen „Schatz“. Es ist sicher, daß Ortsnamen wie Vehlegast, Wolgast, aber auch Personennamen wie Dobrogast, Milegast („lieber Schatz“) dann am besten erklärt sind. Der slavische Heidentempel war die Schatzkammer des Stammes, in der die Siegesbeute aufbewahrt wurde. Es findet sich auch im slav. wirklich noch eine deutliche Spur dieses Wortes gost = Tempel. Miklosich sagt zu gosti Gast: „Damit hängt auch pogoste Kirchdorf, Bezirk, lett. pagasts zusammen (auch Bernecker zu gasto: le. pa-gasts Herrschaftsgebiet); ebenso pogostija Friedhof, dial; in der Bedeutung Kirchdorf ursprünglich wohl der Ort, wo Fremde, Gäste zusammenkommen.“ Diese Bedeutungserklärung ist offenbar sehr schwach, und pogostija und pogosts sind sicher Überbleibsel des alten Wortes gost = hort. Ob und wie dies mit gosti Gast zusammenhängt, ist eine andere Frage. Zum Beweise eines solchen Wortes kann auch dienen, daß z.B. in der päpstlichen Konfirmation von 1140, die das Bistum Cammin bestimmte, castra die alten Heidentempel genannt wurden, die mit ihrem Eigen und Einkommen dem Bischof gegeben wurden. Auch wenn im slav. allgemein in späterer Zeit die Kirche kostelu, tsch. kostel, poln. kosciol von lat. castellum heißt, so ist es doch auffällig, daß gerade im slav. der Begriff des Befestigtseins so hervorgetreten sein soll bei dieser Sache, daß sie davon den Namen erhalten hätte. Sofort erklärt aber ist die Wahl dieses lateinischen Wortes, wenn schon in heidnischer Zeit der Tempel gost, gast hieß, wenigstens dialektisch. Dabei ist an den Wechsel von g und k in N.W.-Slavien zu erinnern, der sich z.B. zeigt in rega für reka Fluß, lang in Brieselang für lanka Bruch. Nach alledem können wir wohl ruhig unser Ria-tre-gast übersetzen als Insel-drei-Tempel und den schon ausgesprochenen Gedanken festhalten, daß es in einer Gegend gelegen haben muß, wo drei regiones zusammenstießen, da jeder Landschaft, jedem Volke, ein Gott entspricht. Da diese drei Götter die Vornehmsten der Slaven sind, so können die drei Völker, die den Bund bildeten, nicht kleinere, Teilvölker, gewesen sein, wie Czircipani, Tolensani, sondern wir müssen an die großen Hauptstämme denken. Deren sind aber tatsächlich drei: die Wilte, die Obdriten und Sorben, wie sie z.B. schon zu 789 genannt werden. Als Karl der Große gegen die Stadt des Dragowit an der Havel zieht, stoßen auch Abodriten, Wilten und Sorben zu ihm. König Otto I. besiegt 955 an der Raxa liutizische Völker. Ein Bericht nennt bloß Slaven, ein anderer Obdriten, ein dritter aber Abotareni et Vulsi et Zcirispani et Tolonseni (Widukind, 3, 53, 54. – Ann. Hersf., A. Hildes. und Quedl. – A. Sangallens. maj.). Dies letzte veranlaßte Qu., vier Völker als den Bund der Redarier bildend anzunehmen. Sieht man näher zu, so sind nur zwei gegeben. Denn die Abotareni sind identisch mit den Obdriten und die Zcircipani gehören als Untervolk zu ihnen, wie die Tolonseni zu den Vulsi. Den Namen Abotareni kann Qu. nicht richtig deuten, und doch ist seine Deutung klar; er ist Ab-Odareni zu lesen, d.h. ein von der Odara, Oder, genanntes Volk, mit der Vorsilbe Ab oder Ob. Genau ebenso ist aber auch der Name der Obdriten zu erklären, der eigentlich Ob-Odariti meint. Wir werden noch einer weiteren solchen, hier sehr wichtigen Vertauschung der slav. Suffixe ise und ine, lat. –iti und –eni, begegnen. Die Obodriten haben also ihren Namen von der Oder, wohnten zu unserer Zeit aber schon westlich von ihr an der Seeküste bis zur Elbe.
Die Wilten haben ihren Namen von der Havel, an der sie zu beiden Seiten von der Quelle bis zur Mündung wohnten. Sie nannten sich Weletowie, lat. Weletabi, zu welchem Plural ein singulares Grundwort Welet gehört. Nun heißt der am Unterlauf der Havel wohnende Stamm Heveller, bei Aelfred Aefeldan, Hefeldun, in der Descr. civ. (Zeuß, S. 600) Hehfeldi, bei Ad. Br. u. Helmold Heveldi. Das bezeugt einen alten t-Laut in dem Namen. Heveldi ist dann abgeleitet von Welet mit einer Vorsilbe ähnlich derer in Orts- und Volksnamen, von deren Abwerfbarkeit schon gesprochen wurde. Der Name Havel also ist verkürzt aus Havelt, Havelet, und dies ist identisch mit Welet. Ebenso sind die Volksnamen Heveldi und Weletabi, Weletowie identisch: die Heveldi sind Heveller, die Weletabi sind die Wilten oder Wilzen.
Wenn die Obodriten und die Wilten ihren Namen von einem Strom hatten, welches ist dann der Strom der Sorben? Das ist die für das Rol. interessante Frage, und das Rol. beantwortet sie selbst. Die Stadt Saragossa liegt nach dem Rol. am Sebre (O, CV(7)), Seibre V(4), Saibre dR., Sobre P.T., Sorbre P.L. Nirgends wird der Fluß wirklich Ebro genannt. Das S ist unlösbar in dem Wort. Die Formen Sobre und Sorbre sprechen schon für sich selbst. Zugrunde liegt ein slav. Name Sorba, das ist der Fluß der Sorben. Die Sorben wohnen zu beiden Seiten der Oder, von der Mündung an aufwärts, es kann also mit Sorba nur die Oder gemeint sein. Der slav. Name Sorba und der germ. Name Oder, zu Ludwigs d. Fr. Zeit Adora, gebildet aus Ostera Ostfluß, wie Wesera und Vistula aus Westera Westfluß, können lange noch nebeneinander bestanden haben. Der Name Val-Doree, im Rol. zweimal, aber nur in vereinzelten Ms., Tv. 1370 und V(7) 3565, kann auf vallis Adorae gedeutet werden. Demgegenüber steht Val-Sevree, für vallis Srbae, in O, V(4), V(7), v. 3313. Es heißt da, das Reich des Königs Cannabeus von Fordonnee erstrecke sich bis Val-Sevree, also von der Weichsel bis an die Oder. So bestätigt hier der Zusammenhang die Deutung. Die Deutung von Ab-Odariti aber wird noch auf ganz andre Art bestätigt. Auch an der unteren Donau gab es ein Volk der Abodriti. Ann. Einhardi A. 824, Pertz I, 212 heißt es: Caeterum legatos Abodritorum qui vulgo Praedenecenti vocantur, et contermini Bulgaris Daciam Danubeo adiacentem incolunt usw. Und in der Descr. civ. (Zeuß 600) werden sie sogar Oster-Abtrezi genannt. Es ist dies eine Doppelbezeichnung, denn sie enthält zweimal das Wort Osten. Diese Ab-Odariti haben ihren Namen von dem Ister, der unteren Donau, an der sie wohnen. Ister ist der gotische Name, der identisch ist mit Estera – Ostera – Odera, und Ostfluß bedeutet. Die gleiche Bildung der beiden Volksnamen zeigt, daß auch die beiden Flußnamen ungefähr gleiche lautliche Entwicklung gehabt haben, daß neben Ister auch Formen wie Oster – Ostera – Odera usw. bestanden haben.
Wo stießen nun die Gebiete der drei Völker Obodriten, Wilten und Sorben zusammen? In Frage kann nur der Norden kommen, wegen der Obodriten. Der nördlichste Teil der Sorben sind die Stettiner, die immer zu den Pomoranen gerechnet wurden, die nach Aelfred zu den Sorben gehören. Auch die Ukrer südlich davon sind Sorben und zwar nach ihrem Namen das Grenzvolk. Sie reichen nicht bis an die Mündung der Uker in das Haff, bis Ükermünde, nicht bis an die Haffküste, sind also nicht Nachbarn der Obodriten, sondern diese Küste gehört zum Stettiner Gebiet, wahrscheinlich doch, weil sie von der See aus von den seegewaltigen Stettinern beherrscht wurde. Alle Stämme links der Oder aber gehörten wenigstens in alter Zeit zum Retrabunde, zu den Liutizen. Auch hier spricht der Name selbst, wie bei den Sorben, denn er ist zusammenzustellen mit lewa links, ist eine Ableitung davon mit dem Suffix ice und bedeutet die Linkswohnenden. Nun soll Retra auf einer Insel in einem großen See (mare horribili adspectu) gelegen haben. Welches ist dieser See? Wenn es jetzt nicht schon die Karte sagte, so könnte man es sich auch vom Rol. sagen lassen. Es findet sich da der Name Val-Bitea in V(4) zu 1370; die andern Ms. Haben abweichende Lesarten: Valferree, Valdoree, Valfondee, Valtornee, d.h. nur Übertragungen resp. Angleichungen an ähnliche im Rol. an anderer Stelle vorkommende Namen. Val-Bitea aber ist echt; es ist auch geschützt durch dR. Valle-Pecede; dies bitea ist latinisiertes slav. bice, deutsch beck, böck Bach, in so vielen Namen N.W.-Slaviens vorkommend, und Valbitea ist der Ort Galenbeck an dem See gleichen Namens. Die Vorliebe des Rol. für val., lat. vallis, hat den ersten Teil umgestaltet. Er scheint noch erhalten in v. 662, wo O la citét de Galne hat, während V(4) Valente, V(7) Valterne einen folgenden Namen damit verwechselt haben. Dazu kommt, daß der Name Tortelose 916, 1282, wahrscheinlich das in der Nähe liegende Torgelow meint und ein Name Val-Sundi in n, wofür in O usw. Valfunde steht, an den Ort Neuensunde östlich unweit Galenbeck erinnert. Dieser Galenbecker See liegt nun auch heute noch in einer Gegend, wo drei Landschaften zusammenstoßen, und auch heute noch sehr einsam, im O., N. und W. rings von Sumpf und Wald umgeben, heute noch schwer zugängig, zu erreichen nur auf zwei schmalen Landbrücken, einmal über Galenbeck im S., dann über Heinrichswalde im O. In älterer Zeit muß der See der großen Sümpfe wegen fast unzugänglich gewesen sein. Dazu lehrt ein Blick auf das Meßtischblatt, daß in dem See wirklich eine Insel liegt, von fast dreieckiger Gestalt, zu der von N. eine weit in den See hinausreichende Landzunge geht, deren Name „Teufelsbrücke“ sehr merkwürdig anmutet. Eine persönliche Erkundung schien also lohnend. Der Eindruck des ausgedehnten einsamen Sees war so, daß man das horribile adspectu wohl versteht. Aber der Fischer, der mich von Galenbeck zur Insel hinüberfuhr, wußte nichts zu sagen von irgendwelcher Spur. Auf der sumpfigen, von üppigster Vegetation überwucherten Insel war nichts zu entdecken. Der alte Herr Gutsinspektor, der schon viele Jahre auf dem Gute Galenbeck tätig war, wußte ebenfalls nichts zu sagen. Die Reise schien also ergebnislos, als der Besitzer des Ritterguts, Herr von Riebe, erzählte, daß in seinem Archive die Abschrift eines Zeitungsartikels sei, der von der Teufelsbrücke und ihrem Bau erzähle. Dieser Artikel, abgeschrieben aus der Dresdener Abendzeitung vom 16. August 1822 (im Original heute noch zu finden in der Dresdener Bibliothek) erzählt folgendes:
Die Teufelsbrücke über den Galenbecker See, unweit Friedland in Mecklenburg-Strelitz.
Wenige Schritte nur hinter dem Dorfe Galenbeck fließt der See gleichen Namens in mäßiger Breite zwischen Wiesenflächen und mit Gartenfrüchten bebautem Uferlande hin, bis sich der Fußpfad um eine Anhöhe krümmt, welche ihn den Blicken des Wanderers entzieht. Obwohl die Heide, durch welche der Weg nun geht, ziemlich licht ist, so läßt sie doch nur an einzelnen Stellen die bläulichen Wogen durchschimmern, und so gewährt es wirklich einen überraschenden Anblick, mit einem Male ins Freie tretend, den See in seiner höchsten Breite, die hier 700 Fuß beträgt, vor sich liegen zu sehn. Gegenüber schimmert das dunkle Laub einer kleinen dichtbewachsenen Halbinsel und zu ihr strebt die Richtung der sogenannten Teufelsbrücke, welchen Namen ein hier von der Natur gebildeter Knüppeldamm führt. Ungeheure Baumstämme scheinen durch gewaltigen Sturmwind entwurzelt und in den See geschleudert zu sein; durch große Steine und Erdmassen unterstützt bilden sie eine feste und bequeme Brücke, welche über 500 Fuß lang und von nicht unbeträchtlicher Breite ist. Wenn man die kleine Insel betritt, so fallen gerade der Brücke gegenüber mehrere mit dichtem Moose überzogene Baumstubben von ungeheuren Umfang in die Augen, welche in wilder Verwirrung durcheinander geworfen scheinen, während rechts ein Fußsteig zu einer halb verwitterten Trümmer leitet, welche ehemals eine Kapelle gewesen sein soll. Die krächzenden Raben, welche bei unserer Annäherung das wüste Gerüll umkreisten, schauten uns bald an von den Schutthaufen, und doppelt freuten wir uns bei der Rückkehr zum ersten Platze der freien Aussicht in die frische und belebte Landschaft. Wie wir uns aber auf und bei den uralten Baumstubben gelagert, gab die freundliche Tochter des Unterpächters folgende Erzählung zum Besten: Vor langen Jahren, noch zu den Zeiten, wo rings im Lande alles katholisch, hat in unserem Dorfe ein Bauer gelebt, der Christoph Patzkow geheißen und ein gar wüster Geselle gewesen ist. In lustiger Pracherei hat nun der wilde Töffel gar viel des Seinen verschlemmt und sich dabei wenig an die Ermahnungen seiner hochbetagten Mutter gekehrt, daß es schier übel im Haus und Hof, wie um die alte Frau ausgesehen haben würde, wenn sich nicht eine treue Dienstmagd, Katharine Noinewskow mit Namen, ihrer angenommen, alles nach besten Kräften zusammengehalten und besonders des lieben Viehs mit treuer Sorgfalt gewartet hätte. Viele junge Bursche, die das Bezeigen der Magd gegen ihre Dienstherrschaft gewahrten und wie sie eine schmucke Dirne war, der alles unter den Händen gedieh, begehrten sie zur Ehe. Doch wollte das Mädchen vom Gehöfte nicht weichen und wies alle Freier von der Hand. Die arme Katharine nämlich gedachte noch immer der Zeiten, wo Christoph ihr, ehe er unter den Kriegsknechten verwildert, in herzlicher Liebe zugetan war, und wie in ihrer Gesinnung sich nichts verändert, so glaubte sie ihm und seinem Hause auch jetzt noch die Treue schuldig zu sein, die sie ihm damals gelobt, und daß er gerade bei seiner Ruchlosigkeit eines sorglichen Auges am meisten bedürfe. Auf seine Weise hatte sie der wilde Mensch noch immer lieb; da sie jedoch ihm seine Frechheit oftmals verwies, höhnte und kränkte er sie mannigfach. So trieb er auch jeden Morgen seine Herde nach der Insel, streckte sich, während das Vieh umher weidete, gähnend unter einem Baum, aß, zechte, trieb mit den Mädchen, die zum Grasschneiden hierher kamen, Katharinen zum Schur, allerlei Narrenteidinge und ließ die Wirtschaft im Felde gehen wie sie wolle; haderte aber alle Morgen mit dem lieben Gott, daß er ihn durch den See zu einem so großen Umwege zwinge und nur in des Angesichts bitterem Schweiße sein Brot zu essen gebe. Als er mit solchem Ausruf sich eine Tages eben in das hohe Gras gelagert, trabte ein stattlicher Reiter des Weges, der ein hochrotes goldgesticktes Kleid und eine Hahnenfeder auf dem Haupte trug, und befragte ihn um den Weg zum Dorfe. Gähnend wies der Faulbauch über den See, sprechend: Da müßt ihr hinaus kommen, und wäre der Weg durch die Heide nicht weiter, könnte es sein, daß ich mit Euch ginge. Du bist ein Gesell, wie ich sie gern mag, entgegnete der Fremde mit Lachen, und zögest auch wohl mit, wenn ich wie hier, so überall, dir eine bequeme Brücke schlüge? Wahrhaftig, ich mein’s, spottete Christoph zurück, wenn ich bis dahin nicht alt und grau geworden. Ist dir’s so eilig, mein Bursch? Fragte höhnisch der Rotrock. Ich bin ein schneller Baumeister, von Mondes Aufgang bis der Hahnenruf schallt und die Kreatur schnatternd und grunzend ihr Morgenlied singt, soll das Werk vollendet sein. Gebt ihr nur die gehörige Breite; ich aber will jetzt eins ausschlafen, daß ich Euch fein munter über die Brücke folgen mag, wenn Ihr den Wunderbau vollführt. Somit legte sich der Faulenzer auf die andere Seite; der Reiter aber rief grinsend: Es ist ein Wort, und jagte davon, daß der Staub in dichten Wolken hinter ihm aufwirbelte. Heiße Glut umwehte den Trägen; die Sonne sticht heiß, dachte er, doch wunderlich war ihm zu Sinne, und nicht gelang es ihm, die Mittaghitze, wie sonst, zu verschlafen. Nachdenklich trieb er am Abend heim, und blieb wider Gewohnheit aus der Schenke zurück. Ein Gewitter, das schon lange am Himmel gestanden, zog jetzt finster drohend vom See her, Petzkow fühlte sich schwer beklommen, er ging in seine Kammer und versuchte, halb vergessene Gebete zu stammeln; aber alle Gedanken waren verwirrt, und von seltsamem Grauen erfaßt, warf er sich endlich aufs Lager und barg das Gesicht tief unter die Decke. Doch ob er die geschlossenen Augen noch so fest verhüllte, sein Ohr konnte er dem furchtbar rollenden Donner nicht verstopfen, und das Auge der Seele ließ sich nicht schließen. Im Geist zum Ufer des Sees entrückt, sah er Blitz auf Blitz durch die rabenschwarze Nacht flammen und gewahrte bei seinem zuckenden Leuchten den Rotrock auf der Anhöhe haltend, um ihn viele hunderte Gesellen, angetan gleich ihm, doch zur Arbeit geschürzt und beschäftigt seine Weihe zu vollstrecken. Unter gräßlichem Gelächter rissen Einige ungeheure Bäume aus der Erde, die andere in die See schleuderten, während viele gewaltige Stein- und Erdmassen herbeiwälzten, womit noch andere die Baumstämme stützten und verbanden. Mit immer höher klopfendem Herzen sah Christoph das grausige Werk fördern, näher und näher rückte die Brücke dem jenseitigen Ufer, in Todesangst sprang er endlich vom Lager und flüchtete entgeistert zu Katharines Kammer. Wach, in eifrigem Gebet, fand er die fromme Magd; kaum aber hatte sie seine stammelnde Erzählung gehört, als sie dem Geängstigten hieß, sich in brünstigem Gebet zum Herrn zu kehren; sie selbst bezeichnete sich mit dem heiligen Kreuze, befahl Gott Leib und Seele und trat alsbald getrosten Mutes in die stürmische Nacht. Nicht Finsternis, nicht Unwetter achtend, lief die wackere Dirne zu den Ställen, störte das Geflügel auf, rief die Kühe mit Namen und ahmte dabei mit täuschenden Lauten den Hahnenruf nach. Als das Vieh die Stimme seiner Pflegerin vernahm, säumte es nicht, mit Blöken und Brüllen wie mit schnatterndem Geschrei zu antworten; besonders aber war der Hühnerpapa zu krähen emsig, daß die Hähne des Dorfes, als haben sie schon viel versäumt, eifrig mit einstimmten, und es nun auf allen Gehöften lebendig ward, als ob der Morgen tage. Wie die kecke Magd also eine Zeitlang ihr Wesen gehabt, verhallten nach und nach die Donner, der Sturmwind legte sich, und dem zagenden Christoph war es, als entwiche der Rotrock mit der Schar seiner Unholde auf garstigem Qualm in die Lüfte. Als aber die Sonne wieder am Himmel stand, staunte das ganze Dorf nach dem beinahe vollendeten Damm über den See. In einsamem Kämmerlein dankte Katharine für die Rettung des Geliebten: denn Christoph hielt fortan sich zum Herrn und dessen Geboten. Zu seiner Bußübung hat er jedoch in brennender Mittagshitze alle Steine auf dem Rücken nach der Insel getragen, die zu dem Bethäuslein vonnöten, welches er auf der Stelle hat erbauen lassen, wo ihm der Rotrock erschienen. Darin hat er einen frommen Waldbruder gesetzt, und obwohl seine ganze Habe darüber hingegangen, hat er es doch mit aller Freude getan, weshalb ihn auch Gott wiederum mit seinem Frieden erquickt und in der wackeren Katharine ein braves Weib beschert hat. Diese hat ihm, als der Bau der Kapelle vollführt, dort ihre Hand am Altare gegeben, und Gottes reicher Segen sie beide während ihres Ehestandes begleitet.
Die Erzählerin hatte geendet und schien von ihren eigenen Worten wunderbar ergriffen, doch war auch uns auf einige Augenblicke die Gegend auf seltsame Weise belebt, und jeder blickte, wie wir nachher einmütig gestanden, nicht ohne geheimes Grauen auf die nächsten Umgebungen, die schon im Zwielicht zu verschwinden anfingen. Da unterbrach munterer Ruderschlag und Gesang das allgemeine Schweigen. Die Schiffermädchen sangen ein Lied, welches wir seit dem Aufenthalt in dortiger Gegend schon oft vernommen, aber der plattdeutschen Mundart nicht wohl kundig, trotz aller Mühe niemals verstanden hatten. Jetzt erkannten wir an den verschiedenen darin vorkommenden Viehstimmen, besonders an dem Hahnengekrähe, daß die eben gehörte Erzählung besungen wurde, und indem wir uns dies zuriefen, war der Kahn bereits gelandet, und froh begrüßten wir unsern freundlichen Wirt, der seinen ermüdeten Gästen ein bequemes Boot zuführte. In damaliger Stimmung hatte eine Fahrt auf dem schönen ruhigen See doppelten Reiz, den jenes Lied, welches wir nun mit seinen bald munteren, bald treuherzigen Reimen ganz wohl verstanden, und das von taktmäßigem Ruderschlage anmutig begleitet, recht artig klang, um vieles erhöhte.
E. Karoli.
Diese Sage ist, wie sie selbst zeigt, noch vor der Reformation in Mecklenburg entstanden. Sie verdankt ihr langes Leben dem Umstande, daß sie früh in die Form eines augenscheinlich gut sangbaren, mit angenehmer Melodie ausgestatteten Liedes gegossen wurde. Die Sage ist auch heute noch in dem Lande am Galenbecker See erhalten, wofür ein genügend objektiver Beweis eine Bemerkung in einer zeitgenössischen Erzählung ist, in Frau Lotte, von Gertrud Wode, abgedruckt in der Täglichen Rundschau. In Nr. 128, vom 4. Juni 1910, wird von dieser selben Sage erzählt, von dem Bau der Teufelsbrücke im Galenbecker See und dem störenden Hahnenschrei, als einer in der dortigen Gegend den Landleuten bekannten Geschichte. Die Sage ist offenbar entstanden, um diese wunderbare Teufelsbrücke zu erklären, d.h. die beiden in einer Linie liegenden von N. nach S. in den See reichenden Landzungen, die genau auf die beiden im See liegenden fast zusammenhängenden Inseln weisen. Sie scheinen in der Tat auf den ersten Blick eine gewisse Künstlichkeit, die Einwirkung der Menschenhand zu verraten. Der Gedanke an eine frühere Verbindung von einem Ufer zum andern über die Inseln weg drängt sich sofort auf. Allerdings ist heute zwischen den Inseln und der südlichen Landzunge, die nur kurz ist, eine beträchtliche Wasserbreite, so daß eine wirkliche frühere Verbindung hier nicht so sehr einleuchtend ist. Um so überzeugender wirkt aber die Lage der Dinge auf der Nordseite. Hier läßt sich der Gedanke, daß die Landzunge von Menschenhand angeschüttet, wenigstens in den See hinein verlängert worden ist, gar nicht abweisen. Die Sage ist leider nicht ganz klar gerade in betreff dieser wichtigen Frage. Während sie immer von einer Insel spricht, auf der der Bauer von dem Rotrock angesprochen wird, läßt sie den Bauern doch dorthin sein Vieh führen und es dort weiden. Es scheint also, daß in der alten Zeit von der Nordlandzunge noch irgendein, wenn auch schmaler Übergang nach der Insel bestand. Es ist zu beachten, daß der See offenbar durch die späteren, zu ihm führenden Entwässerungsgräben des Landes rings herum weit wasserreicher geworden ist. Das zeigen schon die beiden jetzt fast überschwemmten Inseln. Dadurch können aber auch größere Strecken der beiden Landzungen überschwemmt und hinweggespült worden sein. Von der nördlichen Landzunge sollen noch in jedem Frühjahr Stücke hinweggerissen werden. Es könnte das wiederum ein guter Fingerzeig für eine künstliche Herstellung dieser Landzungen sein. Allerdings ist anzunehmen, daß an der Südseite absichtlich zu Verteidigungszwecken eine breite Lücke von den Erbauern gelassen worden ist, die durch eine leicht abbrechbare einfache Laufbrücke ausgefüllt wurde. Im Norden kann die Verbindung fester gewesen sein, denn der Zugang von Norden war vor Feinden gesichert durch die gewaltigen Sümpfe, die wohl nur dem Kundigen einen durch Moorbrücken unterstützten gangbaren Pfad boten. Die Holzbrücken im See werden von Ad. Brem. 2, 18, ausdrücklich erwähnt.
Vorläufig noch beweiskräftiger als der von der Sage behauptete künstliche Bau der „Teufelsbrücke“ ist die von ihr bestätigte frühere Existenz einer Kapelle auf der Insel, deren Reste der Verfasser des Berichts in der Dresdener Abendzeitung noch gesehen haben will. Diese Kapelle war so reichlich mit Land ausgestattet, daß ihr Landbesitz einem Bauerngut gleichkam. Eine solche Stiftung kann nicht auf einen Bauern, nur auf einen Fürsten zurückgehn. Ob eine besondere Untersuchung heute noch Spuren alter Bauten auf der Insel zutage fördern würde, ist bei dem vergänglichen Charakter namentlich der alten wendischen Bauten schwer zu bejahen. Aber inzwischen reichen diese Zeugnisse der Sage, des Verfassers des Zeitungsberichts, des Rolandliedes, die Beweise für die Lage des Gaus der Redarier und für ihre Identität mit den Sarazinen wohl aus, um sicherzustellen, daß der alte Heidentempel Retra-Cordres auf dieser Insel im Galenbecker See gestanden hat. Es mag noch erwähnt werden, daß im Orte Galenbeck, der einen Zugang zum See auf festem Boden gewährte, heute noch die trotzigen Reste einer Burg liegen. Wenn die Burg mit ihrem starken Steinturm auch erst aus späterer Zeit stammt, so läßt sie doch auf eine alte heidnische Befestigungsanlage an dieser Stelle schließen. Vor der Burg Galenbeck nach S. hin liegen die Bergkaveln, zerrissene Dünen, und sowohl im S.O., bei dem früher erwähnten Neuensunde, als auch im S.W. bei Jatzke liegen noch Reste heidnischer Befestigungen, Burgwälle.
Durch die Feststellung von Retra, das ja gleichsam eine vierte Etappe in dem Feldzuge bildete, ist nun die Marschlinie des fränkischen Heeres sichergestellt. Dadurch ist die Frage entschieden, wo das eigentliche Ziel des Feldzuges, das sogenannte Saragossa, lag. Das sogenannte, denn es ist nun klar, daß irgendein Name so hispanisiert worden ist.
Florian Eduard Mann: Vierte Etappe des Feldzuges, Retra, Name und Lage (Auszug), in: Das Rolandslied als Geschichtsquelle und die Entstehung der Rolandsäulen, Eine Studie, Karls d. Gr. Feldzug gegen Retra und Stettin 778, Rolands Tod bei Prenzlau, sein Heldengedicht, seine askanischen Nachfolger, seine Denkmäler, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1912 S. 38-51
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