Ludwig Brückner: Berichtigung zur Rethrafrage. (PDF)
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Von Medicinalrath Dr. Brückner in Neubrandenburg.[1]
Ich bin leider gezwungen, in der Rethrafrage noch einmal das Wort zu ergreifen. In dem vorigen Jahrgange dieser Zeitschrift sind mir einige Entgegnungen gemacht wordenm in Betreff derer man mir wohl den Nachweis verstatten wird, daß sie unzutreffend sind.
Herr Grotefend hat in seinem „letzten Wort in der Rethrafrage“ behauptet[2], ich wolle die Worte Thietmars „quam undique silva intacta circumdat“ ganz an die Seite schieben und mich statt dessen nur an die Worte Adams „undique lacu profundo inclusa, pons ligneus transitum praebet“ halten.
Das ist nicht richtig.
Herr Grotefend schiebt bekanntlich obige Worte Adams ganz an die Seite, mir ist es niemals eingefallen, Thietmars Nachricht über den Wald zu beanstanden.
Nach meiner Anschauung umzog dieser Wald rundum die Tollense, so daß man von allen Seiten her nur durch Urwald den Tempel erreichen konnte, welcher auf einer Insel lag, nach der die (1886 aufgedeckte) Brücke hinüberführte.
Dieser meiner Anschauung über den Wald habe ich in diesen Jahrbüchern, Bd. 54, S. 166, gedacht und auf der folgenden Seite auf die „Reste des großen Waldes, welcher einst den See umzog,“ hingewiesen.
Sodann behauptet Herr Grotefend auch, wenn ich sage, er habe für Rethra einen Platz mitten im Urwalde gesucht, so „verdrehe“ ich ihm seine Worte.
Dies ist ebenfalls unzutreffend. Herr Grotefend muß ganz vergessen haben, was er selbst geschrieben hat.
In Jahrbuch 54, S. 179 – gleich oben auf der Seite -, schreibt Herr Grotefend wörtlich:
„1) Der Schutz der Tempelstadt war Urwald, und zwar undique, also auch nach der dem See zugewendeten Seite.“
Diese Worte lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auch an der dem See zugewendeten Seite von Grotefends Rethra war Urwald, und auch sonst dort noch Urwald undique, überall, rings umher.
Soviel zur Ablehnung der Entgegnungen, die man mir gemacht hat.
In Bezug auf den Streit über die Lage von Rethra ist es völlig gleichgültig, woher Adam die Nachrichten hat, die dem Sinne nach mit Thietmars Angaben übereinstimmen. Diese Nachrichten sind von keiner Seite angefochten worden.
Umstritten worden sind einzig und allein nur diejenigen Nachrichten Adams, von denen bei Thietmar auch nicht die leiseste Spur oder Andeutung vorhanden ist. Es sind dies Adams Angaben über die insulare Lage von Rethra und über die Brücke, die hinüberführte.
Sind die Worte Adams „undique lacu profundo inclusa, pons ligneus transitum praebet“ zuverlässig, wie ich Grund habe, anzunehmen, oder sind diese Worte durch ein Versehen beim Nachschreiben in den Text gekommen, wie Herr Grotefend behauptet, das ist die Streitfrage.
Herr Grotefend behauptet bekanntlich durch philologische Kritik dargethan zu haben, daß Adam seine Angaben über Rethra dem Thietmar „nachgeschrieben“ habe, und in Folge dessen gelangt er zu der Anschauung, daß es mit den von Thietmar abweichenden Nachrichten Adams nicht seine Richtigkeit haben könne, und zu der Annahme, daß Rethra auf dem Festlande gelegen habe.
Sehr unbequem für diese seine Ansicht bleiben ihm selbstverständlich aber doch immer Adams Nachrichten von der Brücke und der insularen Lage von Rethra. Um diesen Angaben die Beweiskraft zu nehmen, wird die Behauptung aufgestellt, beim Nachschreiben aus dem Thietmar habe Adam den Wald ganz weggelasse, aus dem mare in Verbindung mit dem schwer zugänglichen Thore eine Umgürtung mit Wasser gemacht und dann nach obenein eine Brücke beigegeben.[3]
Also Adam hat nach Herrn Grotefend beim Nachschreiben seiner Vorlage einen Theil der alten Nachricht ganz weggelassen, einen zweiten Theil wesentlich umgestaltet und dann noch etwas ganz Neues hinzugefügt.
Woher weiß man das so ganz genau, daß Adam, der Bremer Domherr und Scholastikus, den der Bischof Adalbert zu Hamburg wegen seiner gelehrten Bildung an seinen Hof berufen hatte, – woher weiß man das so genau, daß der seiner Vorlage so ganz blödsinnig nachgeschrieben hat?
Ist das philologische Kritik?
Das ist eben nur eine Behauptung, die der Herr Archivrath durch nichts bewiesen hat und durch nichts beweisen kann.
Wer die Worte Adams unbefangen und vorurtheilsfrei liest, nicht mit der Absicht, einer bestimmten Theorie Alles anbequemen zu wollen, wird sich sagen, von einer Brücke und der insularen Lage Rethras weiß Thietmar nichts, hier bringt Adam neue und genauere Nachrichten über Rethra, hier hat er jedenfalls etwas Selbständiges, das nicht mit Thietmar in Verbindung stehen kann.
Daß Adam nun solche selbstständigen Nachrichten über Rethra, d.h. Nachrichten, die nicht von Thietmar herstammen können, gehabt hat, ist ganz sicher.
Adam berichtet (III, 50), daß in Rethra am 10. November 1066 der Erzbischof Johannes hingerichtet worden sei. Als dies geschah, war Thietmar bereits vor ungefähr 48 Jahren – am 1. December 1018 – verstorben. Es ist also ganz sicher, daß Adam für seine Nachrichten über Rethra auch Quellen hatte, die absolut nicht mit Thietmar in Verbindung zu bringen sind.
Adam kennt auch die einzelnen Vorgänge bei der Hinrichtung des Johannes ganz genau. Es wurden dem Bischof „Hände und Füße abgehauen und der Körper auf die Straße hinausgeworfen; das Haupt ward ihm abgeschnitten, und die Heiden steckten es wie ein Siegeszeichen auf einen Spieß und opferten es ihrem Gotte Radigast. Dies geschah in der Hauptstadt der Slaven, Rethra, am 10. November.“
Daß Adam die Vorgänge bei der Hinrichtung des Johannes so ganz genau kannte, ist sehr erklärlich. Adam lebte zu Hamburg am Hofe des Erzbischofs Adalbert. Die Ostgrenze des Hamburger Kirchensprengels war aber nur etwa drei Meilen von Rethra entfernt.
Rethra selbst war bei der Abgrenzung der Kirchensprengel dem Bisthum Havelberg zugefallen. Die Elde und die Peene bildeten die Grenze gegen das benachbarte Hamburger Erzstift.
Zwei Jahre nach dem Tode des Bischofs Johannes trat nun aber ein Ereigniß ein, durch welches die Lage von Rethra und die örtlichen Verhältnisse daselbst in weiten Kreisen der christlichen Welt bekannt wurden.
Im Jahre 1068 unternahm der Bischof Burchardus von Halberstadt eine Expedition in die Slavenländer. Er zerstörte Rethra, „incondit, vastavit, avectoque equo pro deo in Rheda colebant, super cum sedens in Saxoniam rediit.”[4]
Burchardus war also selbst in Rethra gewesen, und durch eigene Anschauung waren ihm die Lage von Rethra und die örtlichen Verhältnisse daselbst bekannt geworden. Die gleiche Kenntniß über die Lage von Rethra hatten durch eigene Anschauung auch alle diejenigen erworben, die den Bischof auf seinem Zuge begleitet hatten.
Die Zerstörung von Rethra war ein ganz außerordentlich wichtiges Ereigniß für die dem Slavenlande benachbarten Kirchensprengel, und namentlich für die Geistlichkeit, welche sich der Heidenbekehrung in den Slavenländern gewidmet hatte. – Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß die Zerstörung von Rethra mit allen Einzelheiten bei der engen Verbindung der Geistlichkeit unter einander bald an allen benachbarten Bischofssitzen gekannt wurde.
Thietmars Nachrichten über Rethra stammen, wie anzunehmen ist, aus dem Jahre 1005. Damals begleitete Thietmar den Kaiser auf seinem Zuge gegen Polen. Einen Tagesmarsch diesseits der Oder stießen zu dem Kaiserlichen Heere die slavischen Hülfsvölker. Bei Erwähnung dieses Ereignisses giebt Thietmar seine Nachrichten über Rethra.
Adams Nachrichten über Rethra stammen aus dem Jahre 1075.[5] – Im Jahre 1072 war der Bischof Adalbert gestorben, und seinem Nachfolger Liemar hat Adam seine Hamburger Kirchengeschichte gewidmet; geschrieben ist sie im dritten Jahre der Amtsführung desselben.[6]
Adams Nachrichten über Rethra sind also volle 70 Jahre später geschrieben, wie die Thietmars.
Während dieses langen Zeitraumes hatte man Gelegenheit gehabt, die Slavenländer – namentlich zur Zeit der Regierung Godescalks – genauer kennen zu lernen.
Godescalk, früher selbst Heide und im Kriege gegen die Circipaner Verbündeter[7] der Redarier, in deren Gau bekanntlich Rethra lag, ward später ein eifriger Förderer des Christenthums und ein vertrauter Freund des Bischofs Adalbert, den er häufig zu besuchen pflegte.[8] Unter seiner Regierung kam es dahin, schreibt Helmold[9], daß die Länder voll von Kirchen und die Kirchen voll von Priestern waren. – Da war also am Sitze des Erzbischofs zu Hamburg hinreichend Gelegenheit vorhanden, Kenntnisse über die Slavenländer zu erwerben, theils durch die Priester, theils durch Godescalk selbst.
Daß speciell auch die Kenntniß über Rethra – und darauf kommt es bei der Beurtheilung der vorliegenden Streitfrage an, – eine bessere und genauere geworden war, dafür habe ich oben einige geschichtlich beglaubigte Thatsachen beigebracht. Ein besonders großes Gewicht ist auf den Zug des Burchardus nach Rethra zu legen, weil man durch ihn direct Kenntnisse über die Lage von Rethra erworben hatte, die auch einem Schriftsteller am Hofe des Erzbischofs in Hamburg zugänglich waren.
Reichlich eben so großes Gewicht ist aber auch auf den Verkehr des Slavenfürsten Godescalk am Hofe des Erzbischofs in Hamburg zu legen, weil Adam dort mit diesem Slavenfürsten, von dem wir wissen, daß er früher Verbündeter der Redarier gewesen war, in unmittelbare Berührung kommen mußte.
Durch meine rein sachliche Darlegung wird man sich hoffentlich überzeugen, daß Adam nach Thietmars Tode mehrfach in der Lage war, sich genauer über Rethra zu unterrichten, und daß mithin ganz entschieden gar kein Grund dafür vorhanden ist, Adams Nachrichten über Rethra, – soweit sie von Thietmar abweichen, – als unglaubwürdig hinstellen zu wollen.
Die Zerstörung von Rethra durch Burchardus ist für die Einführung des Christenthums ohne nachhaltigen Erfolg geblieben. Als Adam sieben Jahre nach dieser Zerstörung seine Hamburger Kirchengeschichte schrieb, war der Götzendienst zu Rethra in alter Weise bereits längst wieder von Neuem erstanden, so daß Adam über denselben als von etwas Bestehendem berichten konnte.
Der „sehr berühmte Tempel (Rethra) sammt den Götzenbildern und dem ganzen heidnischen Kultus“ ward nach Helmold[10] definitiv erst um das Jahr 1150 durch Niclot und Graf Adolph von Holstein zerstört.
Brückner, Ludwig: Berichtigung zur Rethrafrage, in: Jahrbücher des Vereins für Meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, 57. Jahrgang, Schwerin 1892 S. 350-354
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[1] Da Herr Medicinalrath Dr. Brückner es für nöthig fand, noch einmal seinen Standpunkt zu vertheidigen, wird ihm hier zum letzten Male ein Raum für diese Discussion gewährt. Ich verzichte gern auf eine Erwiderung und beziehe mich zur Kennzeichnung meines Standpunktes nur auf mein im vorigen Jahrbuch abgedrucktes „letztes Wort.“ Der Herausgeber.
[2] Jahrbuch 56, S. 248.
[3] Jahrbuch 54, S. 179.
[4] Annales Augustani in Mon. Germ., V, S. 128.
[5] E.Boll, Meklenburg, I, S. 42, Anm. 1.
[6] Adam in deutscher Bearbeitung von Laurent. Vorrede von Lappenberg, S. 11.
[7] Adam, III, 21.
[8] Adam, III, 18.
[9] Helmold, I, 20.
[10] Helmold, I, 71.