Richard Wossidlo: Volkssagen über Rethra


Richard Wossidlo: Volkssagen über Rethra (PDF)

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I. Einleitung.

Als die Aufforderung an mich herantrat, hier heute in diesem Kreise zu reden, hab ich in der Wahl des Gegenstandes nicht lange geschwankt. Kein anderes Gebiet volkskundlicher Studien zeigt so klar, wie eng sich die beiden Wissenschaften, deren Bund wir hier pflegen wollen, berühren, wie eben die Volkssagen über historisch bedeutsame Stätten – und wiederum kein anderes Problem aus der Altertumswissenschaft des mecklenburgischen Nachbarlandes ist von so vielseitigem Interesse, wie die Frage, die nun schon seit hundertundvierzig Jahren (seit dem bekannten Streit über die Echtheit der Prilwitzer Idole) fast alle Altertumsforscher Mecklenburgs lebhaft beschäftigt hat und die nun seit vier Jahren (d.h. seit dem Beginn der Grabungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft) wieder in den Vordergrund des Interesses gerückt ist: eben die Frage, wo wir das Nationalheiligtum der mecklenburger Wenden, die Tempelstätte des Liutizengottes Radegast-Zuarasici zu suchen haben.

Nach zweijähriger stiller Arbeit glaube ich nunmehr nicht länger schweigen zu dürfen, weil ich die vielumstrittene Frage in ein neues Licht zu rücken vermag, das vielleicht auch der Arbeit anderer den Pfad erhellen kann. Während bisher die Lösung jenes Problems stets entweder auf historisch-kritischem Wege, d.h. durch genaue Würdigung der beiden Berichte, die uns Thietmar von Merseburg und Adam von Bremen geben, oder auf rein archäologischem Wege durch Spaten und Schaufel versucht worden ist, schien es mir verlockend, die mündliche Überlieferung des Volkes zu Rate zu ziehen und den Versuch zu machen, durch die Erforschung der Volkssagen und der Flurnamen dem heißersehnten Ziele näher zu kommen.

II. Vorarbeiten.

Schon in den neunziger Jahren war ich in Waren bei Leuten, die aus der Neubrandenburger Gegend stammten, auf Rethrasagen gestoßen. Die Erklärung eines Gelehrten, dem ich sie vorlegte, er zweifle nicht, daß solche Sagen jung seien und dem Idolstreit und den wiederholten Grabungen der Neubrandenburger Forscher ihren Ursprung verdanken, hat mich, der ich der ganzen Frage noch fern stand, damals leider von weiteren Nachforschungen an Ort und Stelle zurückgehalten. Mancher nun schon stille Mund hätte wertvollen Aufschluß geben und die archäologische Forschung der letzten Jahre hätte sich von vornherein festere Richtlinien vorzeichnen können. Als dann aber im Frühling 1906 der Ingenieur Oesten, der mit unermüdlichem Eifer und außerordentlicher Sorgfalt und Umsicht die Grabungen leitet, seinen zweiten Bericht veröffentlichte, der mir den bestimmten Eindruck weckte, daß man auf dem Wege zum Ziele sei, d.h. daß die noch immer umstrittene Frage, ob überhaupt Rethra an der Tollense und Lieps zu suchen sei, als entschieden zu gelten habe (nicht weniger als siebzehn Orte waren schon für die Tempelstätte in Anspruch genommen worden: Rehse, Rehna, Rieth bei Anklam, Röbel, Stargard, Malchin, Malchow, Groß-Helle, Teterow, Rostock, Gadebusch, der Muritzsee in der Uckermark, Lökenitz an der Randow, Demmin, Wolgast, Lenzen – Oesten selbst hatte zuerst bei Feldberg gegraben), da kam mir der Gedanke, ob nicht doch vielleicht jene früher erbeuteten Sagen auf alter Überlieferung beruhten. Die durch die Peckateler Funde gewonnene Erkenntnis, daß sich sogar aus vorslavisch-germanischer Zeit zuverlässige Überlieferungen im Volksmunde erhalten haben, war ja inzwischen durch die eine Volkssage bestätigende Ausgrabung des Königsgrabes in Seddin befestigt worden.

Nachdem ein kurzer Vorstoß im Juli 1906 reiche Ausbeute erbracht und den allerdings nicht gewollten Erfolg gezeitigt hatte, daß auf Grund einer Sage von der Vergrabung des goldenen Gottes der Wenden im „Blankenburger Teich“ bei Prillwitz, die ich der Rethrakommission mitgeteilt hatte, diese an die Ausgrabung dieses Teiches heranging, ohne weitere Sagenfunde abzuwarten, beschloß ich, nunmehr planmäßig vorzugehen und die ganze Umgebung der Tollense und Lieps abzusuchen.

Um klar zu sehen, ob und inwieweit die heute lebende Überlieferung durch ältere, schon gedruckte Sagen oder durch gelehrte Bildung und die früheren Grabungen beeinflußt sei, ging ich zunächst an eine Prüfung der älteren Geschichtswerke der Heimat, der umfangreichen Literatur über die Prilwitzer Idole und der Ausgrabungsberichte von Masch, Boll und Brückner heran.

Trotz allem Suchen wollte es nicht gelingen, in den älteren Druckwerken sagenhafte Berichte über Rethra aufzufinden. Latomus-Steinmetz, um 1600 Rektor in Neubrandenburg, der, soweit wir sehen, zuerst Rethra bei Neubrandenburg, und zwar bei Prilwitz, gesucht hat, sagt nichts von lebender Überlieferung, und Genzmer (im Jahre 1769 in seinem Berichte über die Idole) erwähnt nur eine unbestimmte Sage, daß im „Mecklenburgischen das goldene Bildnis des Radegast in Lebensgröße in der Tollense oder in dem Malchinischen oder einem anderen, ich weiß nicht welchem See versenket liege“.

Auch Masch, so wertvoll auch seine topographischen Angaben über die Umgebung von Prilwitz sind, ist leider nicht auf den doch durch die dunkle Fundgeschichte der Idole nahe gelegten Gedanken gekommen, über Schatzsagen und Schatzgräberei in Prilwitz Nachforschungen anzustellen. Auch der verdiente Boll gibt (1853) nur zwei kleine Sagen über den Bacherswall, die ihm in ihrer Unglaubwürdigkeit offenbar den Geschmack an mündlicher Überlieferung verleidet haben.

Größere Volkssagen über Rethra bringt dann zuerst Niederhöffer (in seinen „Mecklenburgischen Volkssagen“, 1857), dessen Bericht dann im Auszuge in das Werk von Bartsch, der Eigenes nicht hinzufügt, in die in der Penzliner Gegend viel gelesene Penzliner Chronik von Danneil, in die Prilwitzer Pfarrchronik von Jacoby und auch in Schullesebücher übergegangen ist.

Zwei der Niederhöfferschen Sagen sind echt. Die andere Sage aber von dem Ritter Wernicke auf Burg Grapenwerder bei Penzlin, der mit dem Könige von Rethra ein Fest des Gottes Radegast feiert und dann, als Heinrich der Löwe heranrückt, nach seiner Burg zurückjagt, während die fliehenden Wenden das Radegastbild in die „Trennerkoppel“ bei Penzlin versenken, ist aus echten Bruchstücken willkürlich zurecht gemacht. Die Verbindung von Rethrasagen mit den Sagen vom Burgwall auf Grapenwerder bei Penzlin ist mir in den Liepsdörfern bisher nicht begegnet, und von Radegast und von einem König von Rethra und Heinrich dem Löwen weiß die echte Volkssage nichts.

So war also die Ausbeute an gedruckt vorliegenden Sagen gering genug. Auch das Ergebnis der früheren Grabungen erwies sich als so dürftig, daß sich darauf schon die damals mir vorliegenden Sagen nicht zurückführen ließen.

Nachdem ich dann noch die Umgebung einiger anderer wendischer Kultstätten (am Plauer-, Krakower- und Malchiner See) abgesucht hatte, um von dem Charakter heimischer Burgwallsagen ein Bild zu gewinnen, ging ich im Frühling 1907 in der Tollensegegend selbst an die Sammelarbeit heran.

III. Sammelarbeit.

Das Aufnehmen der Flurnamen erwies sich als ein vorzügliches Mittel, um selbst in der ganzen Gegend heimisch zu werden und die Leute zu unbefangenen Mitteilungen anzuregen.

Bei dem Aufsuchen der Sagen selbst kamen mir die Erfahrungen einer vierundzwanzigjährigen Sammlertätigkeit zugute. Unbeeinflußt durch die Berichte Thietmars und Adams und die Ergebnisse der Grabungen Oestens hab ich nach Kräften versucht, lediglich den Tatbestand aufzunehmen, niemals irgend etwas in die Leute hineinzufragen, die krausen, sich vielfach direkt widersprechenden Berichte in allen Einzelzügen festzuhalten, und immer wieder die Glaubwürdigkeit der Gewährsmänner zu prüfen und festzustellen, aus welchen Quellen sie schöpften.

Das, was den Leuten in den letzten Jahren aus Zeitungsberichten oder durch den Mund der Oestenschen Arbeiter bekannt geworden ist, von sich abzuwehren, dazu bedarf es nur weniger Worte. Wirklich sagenkundige Leute merken, wenn man ihnen in rechter Weise naht, sofort, worauf es ankommt. Eine absichtliche Täuschung, das glaube ich sagen zu können, ist bei meiner Art des Verkehrs mit den Leuten vollkommen ausgeschlossen.

Bisher (bis Mitte September) habe ich sechsundfünfzig Dörfer, zum Teil von Haus zu Haus, abgesucht.

Aus dieser Zahl haben nur etwa zwölf in unmittelbarer Nähe der beiden Seen gelegene Dörfer einen größeren Besitz von Rethrasagen aufzuweisen. In der weiteren Umgebung verblaßt die Sage merkwürdig schnell. Nur die Glockensage geht in einem Umkreis von etwa drei bis vier Meilen ins Land hinein, dann hört bei der bodenständigen Bevölkerung jede Kunde von der untergegangenen Stadt auf. Aber natürlich sind Leute, die aus jenen Dörfern stammen oder doch einen Teil ihres Lebens dort verbracht haben, über einen weiten Landstrich hin zerstreut. So ist des Suchens kein Ende. Um nichts zu versäumen, habe ich angefangen, mir eine demnächst mit Hilfe der Kirchenbücher zu vervollständigende Liste aller Familien anzulegen, die früher in jenen Dörfern heimisch gewesen sind, und festzustellen, ob und wo noch Kinder solcher zum Teil längst verstorbener Leute leben, die mir von zuverlässigen Gewährsmännern als besonders sagenkundig bezeichnet sind. Die suche ich dann auf, soweit sie erreichbar sind. Manche Sagenfunde gehen nach den sich gegenseitig stützenden Angaben der Gewährsmänner in die Zeit von 1720 bis 1750 zurück, also in eine Zeit, wo es eine Rethrafrage überall noch nicht gab.

Natürlich ist nicht alles, was sich heute findet, alte Überlieferung; auch kommt es mir nicht in den Sinn, zu bestreiten, daß Einzelzüge schon in älterer Zeit durch Pastoren und auf anderem Wege in die Überlieferung eingeführt sein können. Das wird in jedem einzelnen Falle zu prüfen sein. Ich selber war zum Beispiel nicht wenig überrascht, als ein alter Fischer, der vorher ausdrücklich versichert hatte, daß er sein Wissen nur mündlicher Überlieferung verdanke, mir erzählte, Rethra habe vier Tagereisen von Hamburg entfernt gelegen. Bei genauerem Nachforschen stellte sich heraus, daß Brückner und andere Herren einmal in der Gegenwart der Fischer auf der Fischerinsel über diese Angabe Adams gesprochen hatten. Die Möglichkeit solcher Entlehnungen muß man natürlich stets im Auge behalten.

Allein daß der Kern der heutigen Rethrasagen auf ununterbrochener Überlieferung von der Wendenzeit her beruhe, ward mir zu gewisser Überzeugung, als ich erkannte, daß die Volkssage Züge bewahrt, wie sie eben nur die dichtende Phantasie des Volkes schaffen kann, und daß noch vor fünfzig Jahren das Bild von der alten Wunderstadt und ihren vergrabenen Schätzen den Bewohnern jener Dörfer völlig vertraut gewesen ist. Wenn de festtiden kemen, denn seten de ollen tosaam un vertell’ten von Schöne Reda. – Ja, von de oll stadt is goor un goor to väl vertell’t worden. – Wenn een anfüng, von de Lieps to räden, denn wüßt jo jeder wat. – De ollen maakten uns dat jo ornlich vör; se vertell’ten dat ümmer so, as wenn se sülben dor mit bi wäst wiren. (Jeder Sagenforscher weiß, daß eben dies ein Kennzeichen besonders alter Überlieferung ist.)

IV. Zähigkeit der Überlieferung.

Diese zähe Fortdauer gerade der Rethra-Überlieferungen findet ihre Erklärung in zwei Umständen. Zunächst zeichnet sich die Bevölkerung der Tollensegegend durch besonders langdauernde Ansässigkeit aus. Schon das vielfache Zusammenfallen von Orts- und Familiennamen (z.B. Penzlin, Krickow, Zachow, Prilwitz, Rehse, Godenswege, Warbende u.a.m.) zeigt, wie eng die Bevölkerung mit dem Boden verwachsen ist. Noch heute wechseln auf den Kabinettsgütern die Leute sehr selten, und fremde Schnitter sind zum Beispiel in Prilwitz und Hohenzieritz eine unbekannte Erscheinung. In solchen Dörfern ist das Sammeln eine Lust.

Dann aber kommt hinzu, daß die ganze Umgebung des Seenbeckens früher noch erheblich mehr als heute mit Wällen, Grabdenkmälern und ähnlichen Anlagen gefüllt war, die die Phantasie des Volkes in reger Tätigkeit hielten, und daß die durch die jetzigen Grabungen Oestens zum Teil schon bestätigten Erzählungen der Fischer und Steinfahrer von Resten alter Dammanlagen in der Lieps immer aufs Neue von der Wahrheit der Überlieferung zeugten. Auch die eine der beiden Glocken, die früher in Prilwitz, allen sichtbar, im niedrigen Glockenstuhle neben der Kirche hingen, galt als leibhaftige Zeugin der untergegangenen Stadt:

De klock von Schöne Reda kann man vörut hüren, so’n klang hett jo keen klock suß in’t land – dee singt jo ornlich – dee drummt det hier na Rähs‘ her. – Up de klock sall dat jo upstahn schräben: Hanna Susanna werd ich genannt, Schöne Reda ist mein Vaterland.

Aber auch die weitere Umgebung war dazu angetan, die Kunde von alter Zeit lebendig zu erhalten. Es ist die Gegend, die unserem großen mecklenburger Landsmann Schliemann die glühende Liebe zum Wiedererwecken vergangener Herrlichkeit eingab.

Da haben wir die Burgen und Schlösser von Stargard, Ankershagen, Penzlin, Weisdin und andere, Burgwälle und Wallanlagen bei Kratzeburg, bei Lapitz, den Grapenwerder bei Penzlin, die Ravensburg bei Neubrandenburg u.a.m.; drei Klöster: die Johanniterkomturei in Klein-Nemerow, das Cisterzienser Nonnenkloster in Wanzka, das Prämonstratenser Mönchskloster in Broda. Tohoophackt hett dat all; de raubritters hebben all mit ’n anner öwereens wüßt.

Es ist auffallend, wie manche Sagenkreise, die in anderen Gegenden Mecklenburgs einen breiten Raum einnehmen, hier nur geringe Ausprägung zeigen: so die Sagen von der Wilden Jagd, vom Wehrwolf, vom Moort u.a.m. Aber von Riesen, Dämonen und Zwergen, von Burgen und vergrabenen Schätzen wird in keinem Teile Mecklenburgs so viel erzählt wie hier. Und das große Sammelbeckenist immer wieder der Sagenkreis von Rethra. Eben deshalb ist es nötig, sich nicht auf das Sammeln von eigentlichen Rethrasagen zu beschränken, sondern einen klaren Einblick in das ganze Sagennetz zu gewinnen.

In diesem Gewirr nun von sich kreuzenden Sagen fehlt es natürlcih an allerlei seltsamem Rankwerk nicht.

V. Wenden.

Eine bestimmte Vorstellung von geschichtlichen Zeiträumen zunächst, von den Taten und der Eigenart des Wendenvolkes wird niemand beim Volke suchen wollen. Und Anachronismen, volksetymologische Deutungen u.a.m. finden sich vielfach. Prill, der angebliche Erbauer von Prilwitz, wird mit Till, d.h. Tilly, dem Eroberer Neubrandenburgs verwechselt u.a.m.

Ich übergehe solche Entgleisungen hier heute. Später werde ich sie alle buchen. Sie gehören mit zum Bilde; daß sie den Wert der Hauptmasse nicht im mindesten in Frage stellen können, ist selbstverständlich.

Sehr viele meiner Gewährsmänner haben nie von den Wenden gehört. Doch ganz vergessen, wie (von Flurnamen abgesehen) in fast allen anderen Landstrichen Mecklenburgs, ist hier der Name nicht:

Ut de oll Wendentiet is dat her. – De Wenden hebben hier wokert. – De Wenden hebben ’n sülwern kalf hatt, datt hebben se anbäd’t, dat is anmaakt wäst an ’n balken.

VI. Untergang.

Von einer Zerstörung der Stadt Rethra durch Menschenhand weiß die Volkssage nichts. Dörch water is de stadt unnergahn, so klingt es mir immer wieder entgegen.

Weck säden, dat water wier von de Tollens‘ herkamen, weck säden von de Eliasbäk, weck von de Zipplower bäk. – Von de borrns ut is dat kamen. – In een stunn‘ is de stadt unnergahn, blos twee lüd‘ hebben sik reddt, de een hett Brandt heeten, de anner Borg, dee hebben Nibrammborg bug’t.

De segg is jo ümmer: eens kümmt noch ’ne fluut, denn geit Brammborg ok unner. – De Brandtsee in Wendfeld is jo ok mit ’n mal entstahn. Morgens hett de buer dor noch weiten sei’t; as he middachs wedder henkümmt, is de see dor. – Ob dat water dat utschölt hett, oder ob ’n ierdbäben kamen is, man weet dor keenen genauen grund von. – Dat is jo all quewwig un sumpig in de Lieps; de stadt hett to siet lägen, de öwerlast is to groot worden. – De oll N. säd‘: de ganze stadt is mit eens rinsackt na de ier. – As Schöne Reta unnergahn is, is de Camminer torfbruch hooch kamen. – De „drög‘ See“ in Ballwitz is hooch gahn, as Schöne Reda wegsackt is. Schon Buchholz, der Gegner Maschens im Idolstreit, erklärt es, ohne die Volksüberlieferung zu kennen, für durchaus glaublich, daß Rethra durch eine Wasserflut untergegangen sei.

Eine Quellennachricht über den Untergang der Stadt selbst liegt nicht vor. Die Angaben in den älteren Geschichtswerken, die zum Teil sogar von einer dreifachen Zerstörung reden, beruhen auf falscher Kombination. Wir wissen nur aus den annales Augustenses, daß im Jahre 1068 der Bischof Burchard von Halberstadt Liuticiorum provinciam ingressus incendit, vastavit, avectoque equo, quem pro deo in Rheda colebant, super eum sedens in Saxoniam rediit.

VII. Flucht.

Wohl aber hat die Volkssage die Erinnerung an entscheidende Kämpfe und an die Flucht der Wenden mit den Tempelschätzen treu bewahrt.

De letzt schlacht is slagen bi ‚ Wirel (Gut Werder). So as jeder gewunnen het, so sünd de grenzen anorniert; dorüm gahn hüüt noch de grenzen von Zipplow un ’n Wirel verkihrt.

Hier bi Penzlin licht ’n brook, dat heet Rustwischenbrook. Mien oll mudder säd‘ ümmer, dat müßt Rootwischenbrook heeten; so väl bloot wier dor flaten.

Die Vermutung, daß, durch einen feindlichen Angriff vertrieben, die Priester mit dem Tempelschatze geflohen seien, ist schon im Idolstreit vielfach ausgesprochen worden.

Die Überlieferung des Volkes über die Richtung der Flucht und die Bergung der Schätze geht kraus durcheinander.

Se sünd flücht’t von Groten Nemerow her dörch dat Liepser Brook na Wustrow un von dor na Lütten-Vielen; dor is de gollen gott wegwäst. Vielleicht hängt damit eine andere Überlieferung zusammen. Pastor Köhler in Vielen hat (1866) eine Sage veröffentlicht, daß im nahen Mollenstorf in einem der dortigen Kegelgräber Götzenbilder sein sollen: „Maria mit dem Jesusknaben u.a.“ – Von Prilwitz ut na’t Liepser Brook sünd se flücht’t; dorbi is dat gollen kalf verloren.

De fiend is vör Wannsch (Wanzka) rückt; dor sünd se flücht’t un hebben den gollen gott verschanzt in de barg twischen Wannsch un Prilwitz.- Von Ihrenhof na Usadel sünd se flücht’t; bi Usadel hebben se den gott nich mihr hatt. – De gollen gott sall liggen twischen Prilwitz un Blomenhagen – twischen Hogenziertz un Usadel, so säden de ollen, dat gewiß flach lett sik nich beurteilen. – Mit den gollen afgott sünd se flücht’t na Blankensee. Dor is ’n waterlock, dor sünd se mit vier offen rinjag’t mit de gollen weeg‘ un den gollen afgott u.a.m. – Sehr merkwürdig ist eine Überlieferung, die mir einer der Oestenschen Arbeiter erzählte:

En oll mann in Nemerow hett mi dat vertell’t. Schloß Wilensow (dat is dat jetzige hüüschen up de „Fischerinsel“) is dat jagd- un fischerschloß wäst, dat hett to Rethra[1] hüürt. As de fiend kamen is, hebben se flücht’t mit ehre schätze, dee sünd so väl wiert wäst as beid‘ Mäkelborg tosaam, na Wilensow. Dat is ok all besett’t wäst. Dor hebben se de schätze vergraben twischen Rethra un Wilensow; öwer de schätze sall water fleeten.

VIII. Blankenburgsteich.

Aber am lebendigsten ausgebildet ist die schon oben erwähnte Sage von der Vergrabung des goldenen Gottes im „Blankenburgsteich“, einem auf der Grenze zwischen Prilwitz und Usadel gelegenen Bruch.

In den Blankenborgsdiek licht dat gollen kalf, dat is de oll segg von früher her.

Eine Überlieferung weist seltsame Einzelheiten auf:

Se sünd nastell’t worden, de Wennschen. In Krickow hebben se den gollen gott noch hatt. Dor hebben se noch halt maakt; dee dor bi herlopen hebben, dee hebben dat vertell’t. Se hebben dat sehn, dat se uppe knee follen sünd un den gollen götzen anbäd’t hebben. De götz is as ’n bengel von achtein johr wäst. Bi den ümswang bi Usadel sünd ehr weck entgegenkamen, dor hebben se den gollen gott versööpt. As se ut de Prilwitzer dannen rutkamen sünd, is de gollen gott weg wäst. Se hebben dat nich bekenn’t, wo se em laten hebben. Öwer de ollen mutmaßten jo, dat se em in den Blankenborgsdiek rinsmäten hadden. Bi Prillwitz sünd de Wennschen gefangen; de kriegskass sölen se in den Penzliner stadtsee rinjag’t hebben. – In ’n Blankenborgsdiek licht ’n gollen schaap. – In ’n Blankenborgsdiek hett üm Johann’s middach en kind inne gollen weeg‘ wankt und wirkt. De lüd‘, dee dorna söcht hebben, sünd verbiestert. – In ’n Blankenborgsdiek sall Johann’s middach ’ne fru höden mit twölf gollen kuhnen. An den stiech, dee gegen de bäk lank geit, is se rut kamen un denn hett se höddt bet an de brüch un denn wedder trüch. Dor stünn ’n ollen johann’sbeerbusch, dor süll ehr huus stahn hebben. Weck wullen jo seggen, se hadden de fru noch sehn.

Diese Überlieferung von dem Schatz im Blankenburgsteich ist beschränkt auf die drei Dörfer Prilwitz, Ehrenhof und Usadel. Immer wieder stellte sich heraus, wenn sie sich an anderen Orten fand, daß der Gewährsmann aus einer jener drei Ortschaften stamme. In Krickow oder Wustrow war bis zum Beginn der Grabungen Oestens (er hat hier bisher nur die Reste eines steinzeitlichen Pfahlbaus aufgedeckt) schon der Name des Teiches völlig unbekannt. Solche Beschränkung von Rethrasagen auf einzelne Dörfer findet sich auch sonst mehrfach. Ich bemerke, daß bei Wustrow (seit 1701) die Landesgrenze durch unser Gebiet geht, und daß die Strelitzer Dörfer durch eine Sprachscheide getrennt sind, deren Lauf ungefähr dem der Chaussee Neubrandenburg-Neustrelitz entspricht.

IX. Name.

Ich unterlasse den Versuch, die Verschiedenheit der Berichte über die Flucht der Wenden zu erklären, und gehe nun zu den Überlieferungen von der Stadt Rethra selber über.

Da ist es zunächst beachtenswert und für die Zähigkeit der Überlieferung beweisend, daß die uns und doch auch schon den Forschern vor hundertundvierzig Jahren allein geläufige Form Rethra dem Volke völlig fremd ist; ich habe sie immer nur bei Leuten gefunden, die obengenannte Chroniken oder Zeitungsberichte über die Grabungen gelesen hatten.

Auch die Form Rethre, die Adam und Helmold bieten, findet sich in der Volksüberlieferung nicht. Das Volk kennt drei Namen. Am meisten verbreitet ist Schöne Reta oder Schöne Reda (beides auch mit dem Artikel), auch bloßes Reda, Reta, Rena u.ä. Die Form Reda ist uns schon oben in den annales Augustenses begegnet; sie findet sich auch bei Fabricius in den origines Saxoniae (1597) und bei Masius. Rete vel Rethre hat Latomus; Reta vel Rethre Lindenberg.

Daneben steht als zweiter Name Magarede oder Magareta (o ne, nich Margarete, ne Magareda), auch Magergret, dann schöne Grete, Schöne Margarete. Dreimal, bei voneinander unabhängigen Gewährsleuten, fand ich endlich als Namen der Stadt: Ninive, de schöne Stadt Ninive. Ich erinnere an das Niniveta statt Vineta im Kodex Puchenii des Helmold. Ein Alter in Blumenhagen erklärte mit großer Bestimmtheit: de stadt hett twee naams hatt. Den zweiten (außer Schöne Reda) hatte er vergessen.

X. Tollense.

Was nun die Lage der Stadt anbetrifft, so stehen sich zunächst zwei Nachrichten gegenüber. Die einen (und zwar weitaus die größere Mehrzahl) wollen die Stadt auf die Lieps beschränkt wissen, andere ziehen die Tollense mit hinein:

Dat ganze water bet na Brammborg hen un all de dörper dor bi rüm: dat ganze is de stadt wäst, so säd‘ mien mudder.

Bi dat Bad’huus bi Brammborg in dat ruhr hett ’ne stadt stahn.

Hinner Brammborg in de groten wischen is ut den Tollensestrom ’n lütten mann rutkamen, dee hett de lüd‘ dee dor meihgt hebben, ’n gollen bäker wies’t un hett secht, de stadt wier noch in ’n stann‘; dat mööt doch früher as verwünscht wäst sien. – De fischers hebben ’n gollen kalf uppe Tollens‘ fleeten sehn.

De klock is ut de Tollens‘ rutkamen (bi Wustrow), nich ut de Lieps.

XI. Fischerinsel.

Auch auf die Fischerinsel selbst, auf der zuerst Beyer, dann Brückner und Oesten den Radegasttempel gesucht haben (Oesten hat dort eine starke Boden- und Uferbefestigung festgestellt), weisen einzelne Nachrichten hin.

Ich erinnere an die oben erwähnte Sage von der Flucht nach dem Jagd- und Fischerschloß Wilensow. – Up de Fischerinsel sall dat floß stahn hebben, wo de räuberhauptmann wahnt hett. – De götz sall liggen bi’t „Hüüschen“ up den „Ruhrbarg“ tenn’s de wisch na Brammborg daal. – Unner dat Hüüschen sall ’n gollen afgott liggen. – Von den Spitzhügel hier in Wustrow bet na’t Hüüschen dörch sall dat gollen kalf liggen. –

Nur einmal bei einer flüchtigen Begegnung mit einem Stargarder Arbeiter, der früher in Wustrow gearbeitet hat, fand ich die bestimmte Angabe, daß auf der Fischerinsel der Tempel gestanden habe: dat Hüüschen sall de kapell wäst sien; von dor ut hebben se den gollen zickenbuck mitnahmen. Ich fand bisher leider keine Gelegenheit, näher nachzuprüfen, ob dieser Bericht aus den Angaben Oestenscher Arbeiter entstanden oder aus alten Quellen geschöpft ist.

XII: Wustrow.

Bedeutsam tritt das Festland von Wustrow hervor.

De gollen weeg‘ licht in de „Swart Kuul“; dor sölen sik jo Johann’smiddach noch twee witt lämmer zeigen mit ’n rod‘ band um ’n hals. – Dat gollen kalf licht hier in Wustrow in ’n hofgooren, so säd‘ mien oll vadder ümmer. – Nicht weit von diesem Hofgarten hat Brückner 1887 den Anfang einer Brücke gefunden, an deren Ende Oesten dann Spuren eines größeren Bauwerkes festgestellt hat.

Diese Sage von dem beim Wustrower Gutshofe vergrabenen Schatze ist alt. Im Jahre 1530 prozessiert Claus Barenfleth auf Hohen-Werder gegen Jürgen Maltzan auf Wustrow: fremde Schatzgräber hätten auf dem ihm (dem Kläger) gehörenden Teile der Wustrower Feldmark gegraben, von ihnen habe Bernd Maltzan (der verstorbene Vater des Beklagten) hundertvierzig Gulden erpreßt und dann selbst dreimal gegraben, und zwar wie Kläger vermute, nicht ohne Erfolg. Jürgen Maltzan antwortet, die Tatsache, daß Schatzgräber auf Wustrower Gebiet gegraben hätten, sei richtig; aber das sei geschehen hart am Torwege seines (des Maltzan) Bauhofes Wustrow. Diese Nachricht, die Beyer (Meckl. Jahrb. B. 37 S. 68) aus dem Schweriner Archive herausgeholt hat, ist wertvoll: sie wirft auf das Alter der Rethra-Schatzsagen ein helles Schlaglicht. Auch die Flurnamen von Wustrow weisen zum Teil auf alte Heiligkeit der Stätte hin; ich nenne hier nur hilgenkamp.

Aber noch eins verdient Beachtung. Der Fischereizug nördlich von Wustrow am „Rohrberg“ entlang heißt „Wendshöken“ oder „Wendshöpen“, wie schon Kühnel angibt. Wäre Oesten dieser Name bekannt gewesen, so würde er vermutlich die bisher noch nicht gründlicher von ihm untersuchte Westseite des Uferrandes der Insel zuerst in Angriff genommen haben.

XIII. Rehse.

Auch das Wustrow benachbarte Rehse tritt in der Überlieferung stark hervor. Dat gollen kalf is verloren up de flucht von Rähs‘ na Zipplow.

Auf dem von Schatzgräbern durchwühlten Paterenenberg in Altrehse (dieser Name kehrt in Wustrow und Usadel wieder) tanzen die Zwerge. – In einem Visitierbuch der Kirchen des Amtes Broda von 1574 ist ein Ackerstück in Neurehse verzeichnet „bei der heiligen Eiche“. Vor kurzem erfuhr ich, daß eine uralte Eiche bei Neurehse im Meiershöfer Revier von den Alten „de Swenn‘ eek“ genannt ist: heute ist sie verfallen. – Bei dem Forsthofe Meiershof ist früher ein Drache erschienen, der aus der Erde herausgekommen ist.

Auch Broda hat alte Flurnamen und bedeutsame Sagen.

Ein Fischereizug hinter Meiershof führt bei den alten Fischern noch heute einen unanständigen Namen.[2] Dieser selbe obszöne Name ist nach der Volkssage der frühere Name von Godendörp (vgl. Kuhn-Schwartz, Ndd. Sagen S. 32) und Gottesgabe. Ich zweifle nicht, daß diese unanständigen Namen dazu dienen sollten, früher den Slaven heilige Stätten verächtlich zu machen.

XIV. Lieps.

Doch gehen wir nun zur eigentlichen Rethrastätte über. Wenn ich frage, ob die Stadt in der Tollense oder in der Lieps gelegen habe, so höre ich in den Liepsdörfern immer wieder die Antwort: Ne, nich in de Tollens‘. Schöne Reda hett in de Lieps lägen. – Wat nu de Lieps is, dat is keen water wäst, dat is all stadt wäst.[3]

De fischers hebben jo so oft vertell’t: dor sölen jo ornlich stripen dörchgahn dörch de Lieps, dat sünd de straten wäst.

Dat hett mien unkel mi tofluucht un tosworen, dat von Zipplow na Prilwitz ’n damm geit.

XV. Prilwitz.

Wenn wir nun zu den einzelnen Plätzen an der Lieps übergehen, so wendet sich unser Blick naturgemäß zunächst Prilwitz zu, wo Latomus und vor allem Masch Rethra gesucht haben.

An Sagen ist die Umgebung des heutigen Prilwitz überreich. Da gibt es sehr merkwürdige Gespenstergeschichten, namentlich vom Kirchhofe, wo die Geister im Dreieck stehend mit einem Schäferknecht Ball spielen, dann eine sehr alte im Herrenhause spielende Zwergsage mit dem auch sonst in Mecklenburg auftauchenden an die Polyphemsage erinnernden Zug, daß jemand sich den Namen Selbergetan gibt, um zu verhindern, daß dem gezüchtigten Dämonen seine Genossen zu Hilfe eilen. Weiter allerlei Schatzsagen (über eine goldene Wiege im „Hasenholt“, über Rehe mit goldenen Hörnern, über Geldfeuer u.a.m.).

Ein dichtes Sagengewebe hat sich um den früheren Besitzer, den Landrat v. Bredow gesponnen, der mit Hilfe eines Banners nach Schätzen gräbt (wir wissen durch Masch, daß er Bronzekessel gefunden hat), aber zurückschreckt, als der Teufel das erste Kind einer christlichen Ehe als Opfer fordert.

Auch Raubrittersagen finden sich. Sichere Hinweise aber auf die Heiligkeit bestimmter Stätten in der unmittelbaren Umgebung des Gutshofes bietet die Sage, soweit ich bisher sehe, nicht.[4] Zu meiner größten Überraschung aber fand ich hier in Prilwitz eine Überlieferung, die es außer Zweifel zu stellen scheint, daß ein Teil der älteren Gruppe der Prilwitzer Idole tatsächlich in Prilwitz in der Erde gefunden worden ist, allerdings nicht, wie Sponholz angegeben hat, im Pfarrgarten, sondern am Wege nach Usadel, nicht weit vom Schloßgarten entfernt. Ich kann darauf hier nicht näher eingehen.

XVI. Kietzwerder.

Von Prilwitz aus müssen wir zunächst noch einen Abstecher machen in die Lieps hinein.

Von Prilwitz na ’n Kietzwirel un von von dor na ’n Efpuurt (beim Bacherswall geit ’n damm; dat hebben de ollen steenführers oft vertell’t.

Diese Insel Kietzwerder tritt in der Volkssage als Stätte eines Tempels auf. Up den Kietzwirel dor hett wat uplägen; dor sölen de klocken herhaalt sien.

Noch deutlicher redet eine Sage, die uns zeigt, daß die Beschäftigung der Phantasie des Volkes mit dem Bilde der alten Stadt zu förmlichen Visionen geführt hat.

De oll reusenfischer Blanck in Brammborg hett minen vadder dat oft vertell’t: He hett eens fischt uppe Lieps Johann’smiddach von 11-12 (in allen Rethrasagen ist es immer der Johannistag, an dem sich die Schätze zeigen). Dor hüürt he mit eens de klocken gahn. As dat lürrt hett, is he mit sinen kahn fast wäst, he hett nich wider künnt. Dor is mit ’n mal dat water weg wäst, he hett dat ganze öwerkiken künnt. De inseln sünd hüser wäst. De Kietzwirel sall de kirch wäst sien, dor hebben de lüd‘ sungen und gottesdeenst hollen. Bi ’n Hempwirel hebben dat rathuus un de groten gebügde stahn. Dor hett ’ne stimm ropen: ditmal süll dat noch so sien, öwer he süll de stell nich wedder berühren in dee tiet. He is ok nie wedder henführt an ’n Johann’sdach.

Oesten hat bei Prilwitz Reste einer alten, auf den Kietzwerder hinweisenden Straße gefunden und auf der Insel selbst starke wendische Besiedlung festgestellt.

XVII. Hohenzieritz.

Im Hinterlande von Prilwitz sehe ich altes Priester- und Tempelland. Daß Hohenzieritz in wendischer Zeit eine Priesterstätte war, wird dadurch wahrscheinlich, daß es vor fünfzig Jahren noch als Hexendorf verschrien war. Ein solches „Hexendorf“ bei einer wendischen Kultstätte ist auch das Dorf Rambow beim Sageler Burgwall am Malchiner See.

Am Stribbower See im Hohenzieritzer Walde tanzen Seejungfern.

Twee familien sünd nabläben von de Wenden, as dee verjag’t sünd, dee hebben hier in Hogenzieritz in dat „Heidenholt“ haus’t.

Der im Jahre 1898 abgebrannte Dorfkuhstall in Hohenzieritz führte den Namen nobelskrog: denselben altmythischen Namen, über dessen ursprüngliche Bedeutung ja viel gestritten worden ist, trägt noch heute im Volksmunde der Friderikenkrug bei Adamsdorf, nicht weit vom Kratzeburger Burgwall. Schon Lisch hat auf die Bedeutung der Kratzeburger Gegend für die Rethrafrage hingewiesen.

Im „Faulen See“ in Wendfeld liegt nach der Volkssage der Wendenkönig begraben. Die „Hellberge“ sind voll von Spuksagen.

Blumenholz hat sehr alte Flurnamen wie Gottskamp u.a., die auf früheres Tempelland hinzuweisen scheinen.

XVIII. Prilwitz bis Spitzberg.

Gehen wir nun von Prilwitz aus am Ufer der Lieps entlang nach Usadel zu, so kommen wir in die Gegend, von der Virchow einmal sagt: wer den Schauder der Vergangenheit empfinden wolle, der solle hierher kommen.

Da ist zunächst der „Scheperborrn“: weck säden, dor süll de gollen gott in liggen. Dann treffen wir den alten Weg von Ehrenhof herunter, der, solange dort die Ziegelei stand, bis zur Lieps hinunterführte und so mit der Usadeler Straße einen Kreuzweg bildete. Dat is de oll wech, dee na Schöne Reda daal führt hett.

Ehrenhof selbst hat sicher mit zum heiligen Bezirke gehört. Der Name hat, wie schon der Flurname Ihrenkölk zeigt, nichts mit dem Vornamen des Landrats v. Bredow (Ehrenreich) zu tun, wie immer behauptet wird.

Bald darauf ragen rechts von der Straße der Spitzberg und der Pferdeberg hervor. Ein dritter Berg ist bei einer Ausgrabung, die der frühere Großherzog veranlaßt hatte, niedergegraben worden.

Diese Berge nun sind altheilige Stätten. Aus dem Spitzberge kommt am Mittage des Johannistages eine goldene Kutsche, jagt in die Lieps und wieder in den Berg zurück. Ein uralter Sagenzug. Schon Kuhn u.A. haben in solchen Sagen eine Erinnerung an Kultbilder gesehen, die am heiligen Tage von der Priesterschaft gebadet wurden. Oll mudder Krickowsch, dor deent ik bi, dee is dor eens vörbigahn mit ehren mann. Dee säd‘, vör ut den barg wiren twee mätens rut kamen, ganz splinternaakt, mit lange swarte hoor, dee hadden ehr hinnen daalbummelt. Dor hadd se sik so vör grug’t. Dat is wohr, de oll fru künn nich leegen.

Zwischen den beiden Bergen wird der Weg dann von der in die Lieps fließenden Eliasbäk, im Volksmunde Liersbäk oder Lierschbäk genannt, gekreuzt. Dieser übrigens stark kalkhaltige Bach ist der eigentliche Spukort der ganzen Gegend.

Wenn man öwer den loop geit, dor spöökt dat.

Dat is ’n bösen uurt hier, sagte mir ein Alter, von dem ich mich über die Flurnamen unterweisen ließ; mien vadder güng goor nich alleen hier röwer.

Wenn de Prilwitzer paster K. von de dööp kamen is, hett he ümmer nich öwer de Liersbäk kamen künnt.

Hier zeigt sich ein gespenstischer Bolle, eine weiße Dame, eine Sau mit Ferkeln; ein anderer fühlt einen warmen Wind an sich vorüberziehen u.a.m.

Ich glaube, daß dieser Spukbach vor dem Pferdeberge der Grenzbach des heiligen Bezirkes von Rethra war. Auch bei anderen sicher wendischen Kultstätten, z.B. bei dem schon erwähnten Sageler Burgwall, ist es ein Bach, bei dem die Spuksagen beginnen.

Ik heff hüürt, bi der Liersbäk is ’n krooch wäst, dor sünd lüd‘ dootmaakt un de liken sünd dor inpurrt. – Hier in dissen wech hebben väl lüd‘ ehr läben laten, säden mien ollen ümmer.

Sollte das eine Erinnerung an Menschenopfer sein, die hier an dem heiligen Wasser dem Gotte dargebracht worden sind?

XIX. Pferdeberg.

Und nun zum „Pferdeberg“. Schon der Name hat besonderen Klang. Ich kann hier auf die Bedeutung der Pferdeberge und Pferdebäche bei germanischen und slavischen Kultstätten nicht eingehen. Nicht minder alt sind die Sagen über diesen Berg.

Johann’smiddach sall up ’n pierbarg an dat Johann’skrut ’n blootsdruppen anhängen, so säd‘ mien oll mudder ümmer.

As de oll staathöller N. bi den pierbarg sik ’ne dann‘ hett afhaugen wullt, is dat in de Prilwitzer dannen en gebutter worden, as wenn dat dunnert hett.

In den pierbarg is so ’n unroh; de oll scheper Voß hett dat dor in singen un summen hüürt.

De oll Sturm hett dor gös‘ höddt; dee hett mi dat vertell’t: in dem pierbarg hett dat rookt, dor is füer in wäst.

Mi hett de oll scheper Gundlach vertell’t: in enen barg bi Usadel (es kann wohl nur der Pferdeberg gemeint sein; Genaueres war nicht zu erfahren) sall fadeltüüch un so wat in sien. Ich erinnere an den Sessel mit dem Zaum des heiligen Rosses, der im Svantovit-Tempel in Arkona stand.

Allein die bedeutsamste Sage von allen, die ich bisher um Rethra herum hörte, ist die von dem Dämon Schruckfoot, der in diesem Pferdeberge haust. Ein Tagelöhner in Prilwitz erzählte sie mir in folgender Gestalt: Mien mudder hett deent bi ’ne ganz olle fru Lietz hier in Prilwitz; dee hett goor to väl to vertellen wüßt. Dee hett vertell’t:

In den pierbarg sall ’n pierdeef haus’t hebben, dee hett Schruckfoot heeten; dee hett ’n mäken row’t hatt, dee hett ümmer morgens vör de sünn‘ ut de Liersbäk water halen müßt. Nu kümmt dor eens ’n kutscher vörbitoführen, dee is dor her, wo se to huus hüürt; den ’n klag’t se dat. Dee secht donn: holl di hier morgen früh prat, denn kam ik. He kümmt ok den annern morgen; se springt rup un he jöcht mit ehr na Prilwitz hento. Dor kümmt Schruckfoot von den barg dal to susen, mien mudder säd‘, he hadd so ’n elfenbeenern rock anhatt un he hadd nich mit de arm hantiert (as wi dohn, wenn wi bargdaal lopen), he hadd de arm stief von ’n liw‘ weg hollen. Öwer he hett ehr nich mihr krägen; se sünd allna den krüüzwech ran wäst, dor hett he nich röwer kamen künnt.

Der Zug, daß Schruckfoot ein Pferdedieb gewesen sei, daß er einen elfenbeinernen Rock getragen und die Arme steif vom Leibe gehalten habe, ist mir nur bei diesem Gewährsmanne begegnet. Sonst ist die Sage in Prilwitz, Ehrenhof und Usadel allgemein bekannt.

Bald heißt der Dämon Schruckfoot, bald Klorrfoot, Wrickfoot, auch Eenbeen, Hans Eenbeen.

Schruckfoot hett eenen pierfoot hatt. – Schruckfoot hett eenen höltern been hatt. – Weck wullen em sehn hebben, dat is ’n lütten gepackten kierl wäst.

De Wenden sünd jo verdräben, Schruckfoot hett dor mit tohüürt.

Dat is keenen goden, dat is de deuwel, sagte mir ein alter Tagelöhner in Prilwitz.

Schöne Lise hett dat mäken heeten, wat he row’t hatt hett.

Selbst da, wo die Sage in ihrer vollständigen Ausbildung nicht mehr bekannt ist, lebt sie in einer Redensart fort: Schruckfoot, loop, dat du Langbeenten krichst – so säd‘ mien vadding oft, wenn wi so langsam güngen.

Je tiefer ich in den ganzen Rethra-Sagenkreis eindringe, desto fester wird in mir die Überzeugung, daß in diesem Pferdedieb Schruckfoot mit dem elfenbeinernen Rock, der im Pferdeberge haust, die Erinnerung an das Kultbild eines slavischen Gottes (Svantovit?) fortlebt, das hier auf dem heiligen Berge, von dem aus man die ganze Lieps- und Tollenselandschaft überschaut, gestanden hat.

Daß in den Sagen von Räubern Spuren von alten Göttern zu finden sind, haben schon Müllenhoff und andere betont. Auch Wodan freilich ist Pferdedieb, und auch die Vorstellung, daß Dämonen einbeinig oder lahm sind, ist der germanischen Sage geläufig. Das unserem Schruckfoot ähnliche Schlorfhack ist ein Name des wilden Jägers.

Allein so schwer es bei der Urverwandschaft der Völker auch ist, slavische und germanische Sagenelemente voneinander zu trennen: ich glaube doch, daß diese in solcher Lebendigkeit fortlebende, an diese Stätte geknüpfte Sage aus der vorwendischen Zeit nicht stammen, auch nicht von den kolonisierenden Deutschen ins Land gebracht worden sein kann.

Ein bedeutsames Gegenstück zu der Schruckfootsage bietet die an der mecklenburgisch-lauenburgischen Grenze lebende Sage von dem Dämon Knickerbeen, der einem Mädchen, das ihn höhnend ruft, antwortet: tööf noch ’n bäten, ik heff minen roden rock noch nich an – und dann als feuriges Rad hinter ihr herfährt.

Auch Viting haust im „Sonnenberge“ bei Parchim mit einem Mädchen, das er geraubt hat, und ähnlichen Räubersagen begegnen wir auch sonst in Mecklenburg; der Flurname röwerbarg findet sich öfter in der Nähe wendischer Kultstätten. Dieser ganze Sagenkreis erfordert eine eindringende Untersuchung.

XX. Pferdeberg bis Usadel.

Auch der ganze weitere Weg bis Usadel hin ist von alter Sage umwoben.

In de Prilwitzer dannen hebben de ünnerierdschen danzt. – Bi de Prilwitzer dannen hett een wascht, dat hett ornlich klappt.

Von de Kurdsbäk an bet an den krüüzwech (es ist derselbe Kreuzweg, der in der Schruckfootsage vorkam) hebben hunn‘ führt mit enen sarg un all de völkers sünd hinnenan gahn. Auch beim Kapellenberg bei Kratzeburg, in dem nach der Sage der Wendenkönig begraben ist, haben Leute einen Sarg tragen sehen.

Vom Blankenburgsteich war schon oben die Rede.

In dem Hohlweg, der dann folgt, reitet der Amtmann N. auf einem weißen Schimmel.

Dor in den hollwech is de möller von de Wannscher möll den ollen N. uphackt un hett sik drägen laten bet an den krüüzwech.

Die Strecke der Lieps von Usadel bis zum Pferdeberg hin birgt sichtbare Reste von Rethra, wenn die Leute recht berichten.

Von Usadel bet an de Prilwitzer dannen sall ’n damm gahn dwas an‘ t land lank. – Ein Usadeler, der im Winter von Prilwitz aus über das Eis heimkehren will, sieht hier plötzlich auf dem Eise einen glänzend hellen Steig und verirrt.

Vör den klöterborrn, wo de stech is an de seegrenz von Prilwitz un Usadel, dor leech väl steenschott, sagte mir noch jüngst ein alter Fischer, dor liggen ok grote felsensteen, dor wo dat ruhr to enn‘ is.

Die ganze Strecke ist bisher, soweit ich aus Oestens Berichten sehe, nicht untersucht worden. Eine Nachprüfung der Angaben der Leute dürfte sich empfehlen.

XXI. Usadel.

Die unmittelbare Umgebung von Usadel hatte früher ein erheblich anderes Aussehen. „Es ist gewiß, sagt Masch (1780), daß in keiner Gegend unseres Landes so viele und große Grabhügel nebeneinander liegen als bei diesem Dorfe Usadel.“ Der Bau der Chaussee von Neubrandenburg nach Neustrelitz, die durch Usadel führt, hat in den 1830er Jahren fast alle diese Grab- und Wallanlagen vernichtet.

In der Volkssage ragt besonders der Paterenenberg hervor, bei dem auch Urnen gefunden sind.

Dat gollen kalf licht bi ’n paterenenbarg hinner dat hoppenbrook.

Nördlich davon an der Ecke der Liepseinbuchtung hat Oesten eine Dammschüttung gefunden.

XXII. Krickow.

Das Usadel benachbarte Krickow ist von der archäologischen Forschung bisher nicht beachtet worden, verdient aber diese Vernachlässigung nicht.

Krickow is de vörstadt wäst von Schöne Reta, so hörte ich öfter.

Mien oll vadder säd‘, Krickow is früher goor keen dörp wäst, dor hett blos ’n krooch stahn.

Diese Überlieferungen, die sicherlich auf gelehrten Einfluß nicht zurückzuführen sind, verdienen an sich Glauben.

Schon Pastor Sponholz betonte im Idolstreit: Rethra konnte weder eines Marktes noch einer Herberge entbehren. Bei der civitas Stettin ist ja ein forum ausdrücklich bezeugt.

Aber jene Überlieferung wird auch durch eine bisher nicht beachtete Tatsache unterstützt.

Gliek bi uns‘ goorens, sagte mir ein alter Tagelöhner in Krickow, licht ’n flach, wo so väl dreeblatt steit; von dor ut geit ’n damm na de Lieps daal, dat is de damm von Schöne Reda wäst.

Ich habe mich von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt. Der Damm ist vorhanden, seine Richtung und Ausdehnung werden leicht festzustellen sein.

Auch die oben erzählte Sage, daß die Wenden auf der Flucht hier in Krickow Halt gemacht und ihren Gott angebetet haben, zeugt von der Bedeutung des Ortes. Auch Krickow selbst ist an Sagen reich. Auf der Krickower Feldmark nahe der Lieps liegen zwei mit Steinen gefüllte und mit Dornsträuchern bestandene Hügel. Hier tanzen nachts zwei nackte Frauenzimmer und singen dabei: Kiwenitz un Käwenitz, krigen wi nicks, denn nähmen wi ok nicks (oder: wi krigen nicks un gäben nicks). Auch Flurnamen wie hexenkeller, irrgooren u.a. sind beachtenswert. Entscheidend aber für die Zugehörigkeit Krickows zum Tempelbezirk ist für mich der Umstand, daß wir auch hier wieder wie beim Pferdeberg auf einen Grenzbach treffen, der der Mittelpunkt der Spuksagen der umliegenden Dörfer ist.

Öwer de Krickowsch bäk hett keener mit willen röwerkamen künnt.

Der Stargarder Pastor, der mit seinem Fuhrwerk nicht herüber kann, steigt ab, zieht ein Rad vom Wagen und zwingt den Teufel, an die Stelle dieses Rades zu treten und den Wagen herüberzutragen.

Hier hütet eine Frau ohne Kopf eine gespenstische Kuhherde, hier spukt ein redender Kater, der einen Nemerower Bauer bittet, seine Katze von ihm zu grüßen (eine bekannte Dämonensage) u.a.m.

XXIII. Liepser Bruch.

Ist aber jener Überlieferung, daß Krickow der Marktplatz war, Glauben zu schenken, so muß ein Tempel in der Nähe sein. Und so gleitet unser Blick nun auf die Stätten, die von der echten Volkssage allein mit Bestimmtheit als die eigentliche Rethrastätte bezeichnet werden: das sind das Liepser Bruch und der Hanfwerder.

Auf dem Bacherswall, der Spitze des Bruches, hat Oesten eine Befestigungsanlage nachgewiesen.

Uppe „Lütt Host“ licht dat gollen kalf. – Uppe Lütt Host is de Wenden ehr kirchhof wäst.

Wo de ossenkoppel is, dor sall de stadt stahn hebben.

Bi de ossenkoppel hett de oll W. ut Nemerow angelt Johann’smiddach, dor is ’n gollen schapp ut de Lieps rutkamen, dat hett blitzt un blinkert.

Wi hebben dor oft beeren plückt in de wisch up ’n Liepser Brook; öwer Johann’sdach grug’t uns ümmer, denn säden wi: hüüt gahn wi nich hen, hüüt kümmt wat in de hööchd in de Lieps.

Auch die Flurnamen des Liepser Bruches geben wertvolle Fingerzeige. Ich kann hier nur kurz auf die Bedeutung der wiekbäk (diese Form lebt im Munde der Alten neben wietbäk) – eine wiek kommt auch bei Marlow, Werle, Rostock und anderen wendischen Burgwällen vor – und des Nonnebaches hinweisen, dessen Name mit den Nonnen des Wanzkaer Klosters nichts zu tun hat.

Am bedeutsamsten aber ist der Name blag’wisch: so heißt eine Wiese am Ufer der Tollense bei dem Garten des Arbeiterhauses. Der altmythische Charakter solcher blauen und grünen Wiesen ist bekannt. Du kümmst nich in ’n himmel, du kümmst na de blag‘ wisch, sagt man noch heute in Hohenzieritz.

XXIV. Hanfwerder.

Und nun zuletzt zum Hanfwerder.

De stadt hett dicht bi ’n Hempwirel lägen.

Gegen den Hempwirel hen mihr seewärts na de Host to, dor sall de stadt lägen hebben – so säd‘ mien oll swiegervadder in Lütten-Nemerow ümmer. Ich weise noch einmal auf die Visionssage hin, von der ich oben sprach: bi den Hempwirel hett dat rathuus stahn un all de groten gebügde.

De oll N. säd‘ ümmer: de hauptgott sall up ’n Hempwirel wäst sien, dor sall de schatz liggen.

Diese letzte Angabe könnte nun allerdings auf früheren Grabungen beruhen. Schon Boll und Brückner haben nämlich hier, wo früher bei dem landwirtschaftlichen Betriebe (jetzt wird die Insel nicht mehr beackert) wendische Kulturreste in großer Menge gefunden wurden, den Tempel gesucht. „Nach der neuesten Vermessungskarte, sagt noch 1883 Brückner, liegt an der Ostseite des Hanfwerders ein gegen Morgen schauender Horst, was uns früher unbekannt war.“ Er denkt dabei natürlich an Thietmars Angabe: porta, quae orientem respicit. Der Brückenfund bei Wustrow (1887) hat Brückners Interesse dann wohl vom Hanfwerder abgewandt.

Auch Oesten hat den Hanfwerder untersucht und eine Uferbefestigung sowie auch Wall und Graben nachgewiesen. Ein Steindamm zieht sich nach Bolls Angabe, die mir von Leuten, die dort gearbeitet haben, bestätigt wird, unter dem ganzen festen Teile der Insel hin.

Aber alle drei Forscher haben zwei Tatsachen übersehen, die, wie mir scheint, von großer Bedeutung für die Rethraforschung sind. Boll sowohl wie Brückner bringen die Angabe eines einwandfreien Gewährsmannes über Hörnerfunde auf dem Hanfwerder bei: „Nach Mitteilung des Usadelschen Müllers, der den Hanfwerder in Pacht hatte, waren dort viele Tierknochen von ungewöhnlicher Stärke ausgeackert, auch hatte man beim Ziehen eines Grabens eine große Menge von Hirschgeweihen gefunden“. Beide machen zu diesem Fundbericht keine weitere Bemerkung, scheinen also nicht an die Angabe Thietmars, die sie wohl mit Masch u.a. anders aufgefaßt haben, gedacht zu haben, daß der Radegasttempel pro basibus diversarum sustentatur cornibus bestiarum.

Oesten, der mit Recht betont, dieses Hörnerfundament müsse aufzufinden sein, ist wohl jene Angabe bei Boll und Brückner entgangen.

Dieser Graben, von dem der Müller redet, muß wieder zu finden sein. Daß wir bei der Angabe Thietmars mit Oesten an ein wirkliches Hörnerfundament zu denken haben, wird durch einen anderen Hörnerfund wahrscheinlich. Wir wissen aus den Magdeburger Annalen, daß in Malchow ante civitatem ein fanum cum idolis war, das im Jahre 1147 cum ipsa civitate durch Feuer zerstört ward.

Lisch, der im Jahrbuche 1867 die Lage des Tempels untersucht, berichtet hierbei: „Bei dem Bau des Hauses des jetzigen Bürgermeisters Rettberg in Malchow wurden in der Tiefe außerordentlich viele Hirschgeweihe, z.B. noch zwei ganze Geweihe, viele Stangen und sehr viele Enden gefunden, welche leider durch einen jetzt nach Amerika ausgewanderten Bürger alle zerstreut sind. Man kann daher auf den Gedanken kommen, daß hier zur Steinzeit ein Pfahlbaudorf gestanden habe“.

Lisch, der den wendischen Tempel auf Kloster Malchow, nicht in der jetzigen Stadt sucht, unterläßt es also, diesen Hörnerfund zu der Angabe Thietmars über den Radegasttempel in Beziehung zu bringen. Ich meinerseits halte es für wahrscheinlich, daß hier der Tempel gestanden hat, und daß in dem sumpfigen Moorboden Malchows, auf dem noch heute die Häuser auf eingerammten Pfählen erbaut werden, dasselbe Mittel zur Sicherung des Tempelbaues angewandt worden ist wie in Rethra.

Natürlich würde, wenn dieses Hörnerfundament hier auf dem Hanfwerder gefunden werden sollte, damit nicht bewiesen sein, daß wir es hier mit dem von Thietmar beschriebenen Radegasttempel zu tun hätten.

Es würde ja nicht ausgeschlossen sein, daß hier in der Nähe des Marktplatzes Krickow ein Heiligtum stand, in dem die niederen Volksschichten zu opfern pflegten, während der Kriegsgott Radegast auf der Fischerinsel verehrt wurde. Eine solche Annahme könnte durch einen weiteren Umstand eine Stütze gewinnen. Steusloff, der 1907 an eine gründliche Untersuchung der Schneckenfauna des Tollense- und Liepsbeckens herangegangen ist, um das Alter der seit der Wendenzeit eingetretenen Neuverlandungen festzustellen, macht auf das häufige Vorkommen von Holunder auf dem Hanfwerder aufmerksam. Er sagt: „Beachtenswert ist die große Anzahl von Holundersträuchen, die vielleicht noch an die Wendenzeit erinnern. In solcher Menge auf engbegrenztem Raume habe ich sie hier noch nie gesehen“.

Als ich dies las, kam mir sofort der Gedanke, daß hier also dieselbe Erscheinung sich zeige, die ein früherer Forscher als charakteristisch für wendische Tempelstätten nachgewiesen hat. Der Archivrat Beyer hat 1867 in seiner Arbeit über die wendischen Schwerine in Mecklenburg darauf aufmerksam gemacht, daß die Flurnamen fleederbarg, fleederwall u.ä. sich öfter bei sicher wendischen Burgwällen finden. Beyer weist dabei auf eine Nachricht hin, die Miletius in seiner Schrift de idolatria veterum Prussorum uns hinterlassen hat. Dieser sagt von dem Sarmaten-Gotte Putscaetus, man glaube, daß er unter einem Fliederbaume wohne, weshalb das Volk ihm Brot, Bier und andere Opferspeisen unter einem Fliederbaume niederlege, wobei man den Gott zu bitten pflege, bei Marcopolus, dem deus magnatum et nobilium, für sie Fürbitte einzulegen. Einen Gott Puschaitis hatten nach derselben Quelle auch die Slaven. Das mecklenburgische Pustekow liegt, wie Beyer nachgewiesen hat, in der Nähe einer wendischen Kultstätte.

Ich habe jene Vermutung Beyers über die Zusammengehörigkeit der Fliederpflanzungen mit wendischen Kultstätten weiter verfolgt und seine Annahme durchaus bestätigt gefunden.

Fleederbarg, fleederkuul, und ähnliche Namen finden sich z.B. beim Bölkower, Teterower, Gnever, Vipperower, Plauer Burgwall u.a.m. Große Mengen von Fliederbüschen werden auch für Neunieköhr, Carwitz und andere sicher wendische Stätten bezeugt.

Auch in der Rethragegend selbst findet sich (oder fand sich nach den Angaben zuverlässiger Gewährsmänner) viel Holunder. Beim Blankenburgsteich stand er früher in großen Mengen, ebenso bei den Hofgärten in Ehrenhof. Fleeder heißt ein Wasserloch bei Rodenkrog, an dem ein Verteidigungswall vorbeiführt; eine fleederkuul haben wir bei Altrehse an der sogenannten Markscheide nach Krukow hin. Ich werde festzustellen suchen, wieweit Namen und Sache in ganz Mecklenburg verbreitet sind. Ein so durchgängiges Zusammentreffen dieser Fliederpflanzungen mit wendischen Kultstätten kann nicht auf Zufall beruhen.

XXV. Zachow.

Doch ich bin noch nicht am Ende. Sehr Wichtiges ist noch zu sagen: ich will es kurz machen.

Neben jenen unmittelbar an der Tollense und Lieps gelegenen Stätten hat auch das ganze Hinterland von Usadel, vor allem der große Wald, der Zechow im Volksmunde genannt, mit seiner Umgebung zum heiligen Bezirke gehört. Und da sind fünf Punkte von besonderer Bedeutung: Rodenkrog, der Keulenberg, das schwarze Bruch, die Krämerkuul und endlich Wanzka.

Bi Rodenkrog is ’ne äben plän, dor sall dat floß stahn hebben. – Bi ’n Külenbarg hebben zwerchen haus’t. – Von diesem Keulenberg (es ist der höchste Berg der ganzen Gegend) bringt Niederhöffer eine im Kerne sicher echte, sehr merkwürdige Sage von einer distelartigen Wunderpflanze, die hier jeden Mittag um zwölf Uhr aus der Erde herauskommt und wieder verschwindet: oben gleicht sie zwei Armen mit ineinander gerungenen Händen, am Stiele zeigen sich zwei Menschenköpfe. Als der Pastor eines nahen Dorfes das Gewächs besprechen will, verkohlt der Stock und sein Arm wird gelähmt. Ich vergleiche diese Sage mit dem Drachen, der bei Meiershof aus der Erde hervorkommt: einer Deutung enthalte ich mich hier. – Von dat „swart Brook“ würd goor to väl vertell’t früher. – Hier verirren zwei Ehrenhöfer Tagelöhner, die vom Zechow her kommen und sehen hier einen prächtigen Lustgarten, der von einem See umgeben ist. – De Wenden hebben lägen in de „Krämerkuul“. Dee is jo ’n poor kilometer lang, dat is ehr richtig upentholt wäst. Dor wiren vier lange gräwer un dor stünnen ok so ’ne grote rosenbüsch un all so wat vörnähms, wat wi nich kennen deden; dor hebben sik de gärtners oft wat herhaalt.

Wanzka hat einige sehr merkwürdige Flurnamen. Wannsch is de vörstädt wäst von Schöne Reda. – Ich erinnere an die Sage, daß die Wenden von Wanzka aus geflohen seien mit den Tempelschätzen.

Bei jedem neuen Funde befestigt sich mir die Überzeugung, daß wir es bei Rethra mit einer ausgedehnten civitas zu tun haben (dat würd jo secht von söben milen in‘ n ümkreis – sagte mir eine alte Frau), deren genaue Grenzen zu bestimmen, wenn überhaupt, nur mit Hilfe der Sagenforschung gelingen kann. Daß diese civitas auch mehrere Tempelstätten umschloß, muß nach dem Sagenbefunde als höchst wahrscheinlich gelten.

XXVI. Schluß.

Damit mag es genug sein. Wenn auch meine Darlegungen nur Umrisse bieten konnten, so haben sie, so hoffe ich, doch gezeigt, daß der Volkssage in der Rethraforschung das ihr gebührende Recht nicht länger vorenthalten werden darf. Kaum die Hälfte der Sammelarbeit ist von mir getan,[5] und an einer eindringenden topographischen Untersuchung der ganzen Gegend fehlt noch viel. Auch die planmäßige Erforschung der Sagenwelt aller anderen wendischen Kultstätten Mecklenburgs ist eine unabweisbare Notwendigkeit. So wird das Bild, das ich hier heute zu zeichnen suchte, um unendlich viele Einzelzüge reicher und lebendiger werden; es wird auch sicher in vielen Punkten zu berichtigen sein. Und die Richtlinien für die archäologische Forschung werden klarer und bestimmter hervortreten. Und jemehr die Grabungen fortschreiten, desto lehrreicher wird es werden, den ganzen ausgedehnten Sagenkreis über diese historisch bedeutsame Stätte auf seine Unterlagen hin zu prüfen.

Doch ob es nun mit Hilfe der lebenden Überlieferung gelingen mag oder nicht, das heißumstrittene Problem zu lösen: die Rethrasagen-Forschung trägt ihren Lohn und ihren Wert in sich selber. Die zwei Jahre, die mich mit dem schönen Landstrich, der einst die heiligen Stätten umschloß, mit unzerreißbaren Banden verkettet haben, sie haben mir zugleich die Augen geöffnet, daß doch alles, was bei uns in Mecklenburg bisher auf dem Gebiete der Sagenforschung geleistet ist, Stück- und Flickwerk war, daß nur bei beharrlichem Strebenin kleinem Umkreise mit dem steten Blick auf große Ziele der unermeßliche Reichtum des Volkes erschlossen werden kann. Möge eine solche Erkenntnis auch in anderen deutschen Gauen zur Eile spornen, mögen überall sich fleißige Hände regen, damit die deutsche Altertumswissenschaft und Volkskunde sich immer mehr gegenseitig befruchten und durchdringen können.

Digitalisiert durch: rethra.wordpress.com

Wossidlo, Richard: Volkssagen über Rethra, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, Jahrgang 57, Nr. 5 und 6 (Mai und Juni); Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Berlin 1909 S. 225-246

 

[1]Der Mann gebrauchte diese Namensform, die er aus dem Munde Oestens oft gehört hatte; vgl. unten.

[2]Kühnel in seinem Programm nennt diese Stelle dodenloch. Sein Gewährsmann, ein Verwandter des Fischereipächters, gestand mir, daß er den obszönen Namen nicht habe nennen mögen. Man muß eben bei Flurnamenforschungen sich immer an die niederen Volksschichten wenden, denen solche Rücksichten fern liegen.

[3]Für solche Leser, denen die Rethrafrage fremd ist, sei hier bemerkt, daß durch das Stauwerk der am Ende des dreizehnten Jahrhunderts erbauten Vierrademühle in Neubrandenburg eine Erhöhung des Wasserspiegels um anderthalb Meter herbeigeführt ist; so viel müssen wir uns also immer von dem heutigen Wasserstande fortdenken.

[4]Diese Angabe läßt sich nach neueren Funden nicht mehr aufrechterhalten.

[5]Es sei mir hier die Bemerkung gestattet, daß ich inzwischen (bis Ende Januar) schon wieder eine große Zahl wertvoller Sagen erbeutet habe. Ein Teil derselben ist bereits von mir verwertet worden für den Bericht über diesen Vortrag in den „Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde“ (1908, Heft 3) und in der Zeitschrift des Heimatbundes „Mecklenburg“ (1909, Heft 1).

Ein Kommentar zu “Richard Wossidlo: Volkssagen über Rethra

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