Wigalois: Wo lag Rethra? (PDF)
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Helmold (1.172) „Chronik der Slaven“ ein sehr wenig zuverlässiger Compillator, giebt an, daß Rethra im Lande der Lutizen lag. – Der Charakter der Helmold’schen Berichte läßt sich aber deutlich erkennen, wenn derselbe berichtet, die Stadt Julin (richtiger Vineta oder Jumne genannt) habe ihren Namen vom Begründer, Julius Cäsar, wo doch Cäsar nie in diese nordgermanischen Gegenden gekommen ist. Es zeigt sich daran aber auch hier nur, wie jeder römisch-christliche Pfaffe bestrebt war, alles Deutsche ins Römische zu verkehren.
Thietmar (+975), der anscheinend in Rethra selbst gewesen ist, berichtet „es liegt im Gau der Retharier“ und Adam von Bremen (+1076) erzählt, daß Rethra inmitten des Gaues der Retharier sich befand und daß man dieses Heiligthum von Hamburg aus „in vier Tagereisen erreichte.“
Der Gau der Redarier oder Retharier, lag, wie historisch feststeht, in jenem Mecklenburgischen Revier zahlreicher Seen, unter denen der Müritz-See der größte ist. Diese Gegend, der Gau des Stammes der Retharier, liegt auch von Hamburg vier Tagereisen ab, in jenen Zeiten, wo man zu Pferde zu reisen und dabei täglich sieben Meilen zurückzulegen pflegte.
Es haben über die Lage von Rethra schon viel Erörterungen und Forschungen stattgefunden, ohne daß man dadurch zu einem bestimmten Resultate gekommen wäre. Bronzene Götzenfiguren in kleiner Puppengröße, die man im Pfarrgarten zu Prillwitz am Tollense-See Ende des 18. Jahrhunderts auffand, waren die Veranlassung, dort die Tempelstätte längere Zeit zu suchen, doch haben sich diese geringen Figuren später als die Fälschungen eines Gelbgießers zu Neu-Strelitz erwiesen, wo solche jetzt im dortigen Museum aufbewahrt sind. Der Alterthumsforscher Lisch, von der begründeten Ansicht ausgehend, daß Rethra nur in jenen angegebenen Mecklenburgischen Seegebieten um den Müritz-See zu suchen ist, versteift sich in der Ansicht, dasselbe müßte, als ehemals haidnisches Tempel-Gut auch wieder dem danach eingerichteten christlichen Kirchen-Gute des ersten Stiftes zu Broda am Tollense-See zugelegt und dessen Lage mit der des nachmaligen Klosters zu Broda identisch sein. Bei alle den bisherigen Annahmen in diesen Seerevieren, wo die Lage von Rethra den vorstehenden Berichten gemäß, unbedingt gesucht werden muß, ist aber niemals hinreichend in Betracht gezogen, welche Eigenschaften die Oertlichkeiten, die Stätten, haben mußten, wo die gewaltigen Völker an der Ostsee ihr nationales Heiligthum und die damit verbundenen Tempelschätze und Versammlungsorte für ihre großen, der Gottheit geweihten Feste hatten, wie sie jenes Alterthum feierte. Schon aus diesen Gründen können zum Beispiel Orte, wie am Tollense-See, Broda, Prillwitz, ferner bei Feldberg etc. etc. garnicht in Betracht kommen.
Von jeder Kriegsbeute, berichtet uns Thietmar von Merseburg, 3. B. C. 17, beehrten sie jenen ihren Haupttempel mit schuldigen Gaben und ferner: „hier befinden sich auch ihre Feldzeichen, welche nur im Fall des Bedürfnisses, wenn es zum Kampfe geht, von hier fortgenommen und dann von Fußkämpfern getragen werden. Deshalb mußte zudem diese Tempelstätte der großen Tempelreichthümer und einer zahlreichen Priesterschaft wegen eine von der Natur so geschützte Lage haben, daß der Schutz durch Bauwerke nur eine Ergänzung der ersteren bildete.
Nun giebt es aber in den genannten See-Gebieten hier eine Oertlichkeit, die zu jener Tempel-Anlage, mit allen deren Voraussetzungen und Erfordernissen so vollkommen sich eignet, daß es wundersam und geradezu unbegreiflich erscheinen würde, wenn solche in dieser Beziehung jenen alten klugen und praktischen Völkern entgangen wäre. An der Südseite des Müritz-Sees, welches der größte Landsee Deutschlands ist und von Süden bis Norden eine Länge von über drei deutschen Meilen hat, streckt sich eine Landzunge tief in die gewaltige Wasserfläche des Sees hinein.
Diese Landzunge, jetzt das „Steinhorn“ genannt, war noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts eine Insel und ist jetzt mit dem südlichen Festlande durch ein schilf- und sumpfreiches Bruch verbunden, dem man es wohl ansieht, daß es früher ein Wasserarm des Müritzsees gewesen ist. Auf der Mitte dieses Steinhorns erhebt sich ein Hochplateau, dessen dreieckige, mit der Spitze gen Norden mit den Seiten nach Westen und Osten ausgedehnte Form, der Anlage eines Bauwerks darauf „von dreieckiger Gestalt“ wie Thietmar von Merseburg den Rethra-Tempel beschreibt, genau entspricht.
Dieses Steinhorn war also früher als Insel ringsum von der Natur durch die umgebenden Fluthen des Müritz-Sees geschützt, die es nach Westen, Norden, und Osten mit weiter Wasserwelt umlagern, indeß der schmalere Seearm gegen Süden durch ein sumpfiges Tiefland weit ins Land hinein begrenzt ist, welches in jenen alten Zeiten ganz unzugänglich und nur durch viele Brücken zu passieren gewesen sein wird.
Die Ueberlieferung nennt uns die in der Nähe am Müritzsee belegene Stadt Röbel als den Ort des Tempels. Auf Röbel paßt aber in keiner einzigen Beziehung weder das was wir über Rethra bestimmt wissen, noch das was wir von dessen Lage und Beschaffenheit vorauszusetzen haben. Nun steckt aber in solchen Ueberlieferungen gewöhnlich ein gewisser Kern, und dieser Kern wird in diesem Falle der sein, daß Röbel, welches mit seiner hohen Burg, auf dessen kleinem Plateau jetzt eine Kirche liegt, sich vortrefflich dazu eignete, eine starke Festung zum Schutze der Tempelstätte des nahen Rethra war und daß durch diese Festung Röbel der Weg zu dem kostbaren Tempelheiligthume führte. Der Weg von Röbel zum Steinhorn bedurfte dann aber vieler Brücken über die den Ueberfluthungen des großen Müritzsees ausgesetzten Niederung mit ihrem jetzt noch wahrnehmbaren Bruch- und Sumpflande und jede dieser Brücken muß zweckentsprechend mit einem die Brücke schützenden Thore versehen gewesen sein, wodurch die Mittheilung Adams von Bremen ihre noch bei keiner anderen Oertlichkeit gegebene örtliche Möglichkeit ihre einzige Aufklärung findet, daß Rethra „neun Thore hatte und rings von einem tiefen See umgeben war.“ Aber auch andererseits finden sich gegenwärtig noch die Spuren vieler von Menschenhand umher geschaffener Befestigungen, die in einer weiteren oder näheren Entfernung jenen Ort des Steinhorns zum Mittelpunkte haben, also auf diesen Ort als einen in so hohem Grade bedeutungsvollen hinweisen, wie es das Nationalheiligthum jener nordischen Völker darstellt. Im Müritz-See liegen, im deutlich erkennbaren Halbkreise um das Stein-Horn herum, flach unter dem Wasserspiegel große Reihen von offenbar durch Menschenhand dort angeordnete riesige Wanderblöcke, auf denen jedes, dem Steinhorn zu Wasser sich näherndes Fahrzeug, welches die Lage dieser Steine nicht kennt, zu stranden in Gefahr kommt, wie noch heute des öfteren vorkommt, aus diesem Grunde diese gegenwärtige Halbinsel eben den Namen „Steinhorn“ erhalten hat.
Zu Lande liegt südlich dem Steinhorn nahe die „Krewese-Borg“ oder der „Düwelsberg“, der offenbar eine besondere alt-haidnische Bedeutung hatte und, wie es die Sage auch bestätigt, einst eine feste Burg war.
Weiterhin sind es in der Nähe die Höhen von Klopzow, des 106 Fuß hohen Berges bei der Melzer Mühle, bei Bollewick, bei Wackstow, und insbesondere, wie schon erwähnt, die von Röbel, welche der Sage nach theils früher befestigte Burgen hatten, oder auf denen sich letztere noch jetzt nachweisen oder vermuthen lassen. In weiterer Ferne rings um den Müritz-See können dann die alten Burgen zu Waaren, Penzlin, Hohen-Zieritz, Alt-Strelitz, Mirow, Wittstock, Freyenstein und Malchow mit seiner Seenkette, die auf den Schutz des National-Heiligthums Rethra berechneten Festungen gewesen sein. Eine genaue historische Erforschung in diesem Sinne wäre gewiß ein dankbareres patriotisches Feld, als alle die exotischen fremdländischen und der Förderung wahren Deutschthums so fernen historischen Forschungen, die jetzt eine Mode sind.
Aus der nächsten Nähe des Steinhorns hat sich ferner noch folgendes feststellen lassen:
Die Wasserfläche jenseits der erwähnten Steine, welche das Steinhorn umgeben wird, von den Fischern („Pal-Ort“) „Pfahl-Ort“ genannt, was zweifellos darauf hinweist, daß dort noch ein das Heiligthum von der Seeseite schützendes Pfahl-Werk im Müritzsee vorhanden war, und wurden Reste dieser Pfähle, nach dem Berichte alter Fischer, bei niedrigem Wasserstande auch wirklich früher dort noch wahrgenommen und werden sicher jetzt auch noch aufzufinden sein. Ferner lebt unter den Anwohnern hier die Erzählung, „daß auf jener Höhe des Steinhorns früher eine große alte Burg gestanden habe, mit steinernen Wällen und Gebäuden, deren Steine später zum Bau der Altstädter Kirche in Röbel abgefahren seien. Ferner zu Gneve zwischen dem Steinhorn und Röbel, dann in den dem Steinhorn unmittelbar benachbarten Dörfern Ludorf (Leute-Dorf?) und Solzow und auf der jetzt noch „der Burg-Wall“ genannten nahen Insel sind die Spuren ehemaliger starker Befestigungen noch jetzt zu erkennen. Alle diese Schutzmaßregeln beziehen sich offenbar nur auf das Steinhorn und lassen deutlich erkennen, daß dieser Ort einst eine hervorragende Bedeutung gehabt hat, die in die haidnische Vorzeit zurückgeht, da die Geschichte uns von deren Bedeutung sonst nichts aufbewahrt.
Wie historisch oft erörtert ist, hatte die Priesterschaft eine Reiterschaar von 300 gewapneten Kriegern, die derselben zur Executionstruppe und zur etwa erforderlichen Vertheidigung diente und, die der Sage nach, bei Zerstörung des Tempels durch die Christen ums Jahr 1200 im Kampfe fiel und auf dem sogenannten „Haiden-Kirchhofe“ bei Nossentin, im Norden des Müritzsees begraben ist.
Neben dem Steinhorn und sich wie dieser weit von Süden gen Norden jetzt als Halbinsel in den Müritzsee erstreckend, liegt der „Große Schwerin.“ – Der Alterthums- und Geschichtsforscher Lisch führt in seinen Jahrbüchern für Mecklenburgische Geschichte aus, daß der Name „Schwerin“ einen „Thiergarten“ bezeichnet, als solcher deshalb sehr oft vorkommt und im Wesentlichen zur Bezeichnung des Reviers eines Pferde-Gestütes in alten Zeiten gebraucht ist. Es liegt deshalb sehr nahe, anzunehmen, daß jener „Große Schwerin“ bei dem Steinhorn für die Priesterschaft des Tempelheiligthums das Gehege war, wo die Rosse jener Reitertruppe gezogen und erhalten wurden.
Das „Steinhorn“ im Müritzsee ist vom Schreiber dieses zum Zwecke der Erforschung von Rethra, die das vorstehende Resultat ergaben, mehrfach aufgesucht. Man erreicht dasselbe von Röbel aus zu Schiff und zu Lande, indes ist der letztere Weg sehr beschwerlich und ist das Betreten jenes Geländes auch nur mit der Erlaubniß der Gutsherrschaft zu Ludorf gestattet. Die beim ersten Besuch in meiner Begleitung sich befindenden beiden alten Röbel’schen Bürger, ein Gastwirth und ein alter Fischermeister, der die Fischerei auf dem Müritzsee über 50 Jahre betrieb, und alle Verhältnisse und Ueberlieferungen genau kannte, wollten mich auffälliger Weise auf das Waldplateau des Steinhorns nicht begleiten, sondern meine Rückkehr am Seeufer abwarten, mit der Erklärung: „Da geiht de Deuwel üm!“ – Bekanntlich pflegte die christliche Clerisei, die dem Haidenthum heilig gewesenen Stätten, welche sie nicht für ihre Zwecke verwendeten, als Stätten des Teufels zu brandmarken und obige Bemerkung ist gewiß als eine Ueberlieferung davon anzusehen.
Wie schon erwähnt, ist die Höhenfläche des Steinhorns jetzt ganz mit Wald bedeckt, in dessen Mitte sich eine Buche erhebt so riesig, gewaltig und über den alten, dicken, wie Eichenrinde rauhen Stamm die mächtigen Aeste ausbreitend, daß sie schwerlich ihresgleichen in Norddeutschland finden dürfte. Hat Ahnen oder Wissen von der einstigen heiligen Bedeutung dieser Stätte diesen Baum hier einst gepflanzt und pietätvoll erhalten? –
Es würde, wie schon bemerkt, unbegreiflich sein, wenn diese von der Natur dazu so außerordentlich begünstigte Stätte jener alten Haiden-Welt zur Anlage ihres National-Heiligthums entgangen sein sollte.
Leise rauschte der Wind über die unendliche blaue Fluth des größten Binnensees Germaniens her in den hohen Kronen der Bäume, die tausendfältige Musik der singenden Wasserwogen mit dem Rauschen des Waldes zu einem gewaltigen Chorale mischend, gleichsam wie ein Lied von dem ewigen Bestande des Wirkens Gottes in der Schöpfung, welches der hehren Religion unserer haidnischen Vorfahren die Grundlage gab.
Wigalois: Der Tempel zu Rethra und seine Zeit, Ein Beitrag zur Geschichte des germanischen Haidenthums, Verlag von P. Wendland, Berlin 1904 darin: Wo lag Rethra? S. 139-144
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