Ludwig Brückner: Bericht über eine Excursion nach denjenigen Uferpunkten der Tollense und Lieps, an welchen die Lage von Rethra gesucht worden ist


Ludwig Brückner: Bericht über eine Excursion nach denjenigen Uferpunkten der Tollense und Lieps, an welchen die Lage von Rethra gesucht worden ist (PDF)

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(8) Hr. Brückner zu Neu-Brandenburg übersendet einen

Bericht über eine Excursion nach denjenigen Uferpunkten der Tollense und Lieps, an welchen die Lage von Rethra gesucht worden ist.

Die seitens der Berliner anthropologischen Gesellschaft neuerdings angestellten Untersuchungen über die Lage von Rethra haben den Neubrandenburger Verein veranlasst, sich ebenfalls wieder mit der Rethrafrage zu beschäftigen. Die Veranlassung dazu lag sehr nahe. Rethra ist in der nächsten Umgegend von Neubrandenburg an mehreren Uferpunkten der Tollense und der südlichen Fortsetzung derselben, der Lieps, gesucht worden.

An der nordwestlichen Ecke der Tollense, da wo jetzt der grossherzogliche Park von Belvedere liegt, hat Sponholz1, Pastor zu Rülow, die Stelle von Rethra finden wollen.

An der südwestlichen Ecke der Tollense bei und um Wustrow und auf dem gegenüberliegenden kleinen Werder, der Fischerinsel in der Tollense (vulgo „Hüschen“, Häuschen, genannt nach einem dort stehenden, dem Fischereibetriebe dienenden, kleinen Häuschen) ist von Beyer2, Archivrath zu Schwerin, Rethra gesucht worden.

Die meisten Forscher haben Rethra an der südlichen Fortsetzung der Tollense, an der Lieps, bei Prillwitz gesucht. – Hier glaubte es schon 1611 Latomus (Bernhard Steinmetz) Rector an der lateinischen Schule zu Neubrandenburg in seinem Genealo-chronikon3 suchen zu sollen. – Hierher verlegten es auch Pistorius, Landsyndikus zu Neubrandenburg, und Masch4, Superintendent zu Neustrelitz. – Auch Lisch5 bezeichnet nach seinen Untersuchungen Prillwitz als die Stelle, an der Rethra müsse gelegen haben.

Auch F. Boll6, Präpositus zu Neubrandenburg, hat Rethra an den Ufern der Lieps gesucht; zunächst auch in der Gegend von Prillwitz. Später schien ihm ein Theil des zwischen der Tollense und Lieps liegenden sogenannten Liepsbruches, die tief in die Lieps einschneidende, Prillwitz gegenüber liegende Halbinsel allen Angaben der alten Chronisten über die Lage der Stadt Rethra zu entsprechen. Auf der gegen Morgen von dieser Halbinsel mitten in der Lieps liegenden Insel, dem „Hanfwerder“, waren wiederholt Alterthümer gefunden worden. Diese Insel konnte nach seiner Meinung vielleicht auch zu Rethra in Beziehungen gestanden haben.

Nach den soeben bezeichneten Punkten, so weit sie am Südende der Tollense und an der Lieps liegen, hat der Neubrandenburger Verein am 28. Juli vor. J. eine Exkursion unternommen, der sich zur Freude der übrigen Theilnehmer Herr Dr. Voss und Herr Künne aus Berlin angeschlossen hatten. Es galt, zu prüfen, wie weit die gedachten Oertlichkeiten mit den Angaben der Chronisten in Einklang zu bringen seien.

Um diese Angaben noch einmal kurz hier zusammen zu stellen, so lag nach Thietmar von Merseburg im Gau Ridirierum, umgeben von einem grossen und von den Einwohnern unberührten und heilig gehaltenen Walde eine Stadt Ridegost, welche eine dreieckige (tricornis) Gestalt und drei Thore hatte. Das gegen Morgen schauende Thor führte an das Seeufer, zum Tempel und zu dem visu nimis horribile, den Grauen erregenden Stätten des heidnischen Götzenkultus.

Nach Adam von Bremen lag Rethra im Gau der Retharier auf einer Insel in einem See; eine Brücke führte hinüber. Die Stadt hatte neun Thore. Der Hauptgötze, welcher dort verehrt wurde, hiess Redigast.

Dass beide Chronisten dasselbe Heiligthum der Rhedarier beschreiben, ist mit Grund wohl nicht zu bezweifeln.

Von einer erneuerten Untersuchung des am Nordende der Tollense gelegenen Terrains bei Belvedere konnte man bei der Exkursion absehen. Belvedere ist ein unfern von Neubrandenburg belegener, vielfach besuchter Vergnügungsort. Die ganze Lokalität ist genugsam bekannt.

Sponholz, der hierher Rethra verlegt, stützt hauptsächlich seine Ansicht auf die schöne Lage des Ortes, die eines Tempels würdig sei; – auf den Umstand, dass der Blick von hier aus gegen Morgen auf den See fällt; und endlich mit besonderer Betonung darauf, dass an dem hier steil in den See abfallenden hohen Ufer an der Westseite der Tollense einzig und allein ein „hart am See hinlaufender, Schwindel erregender7, Fussweg“ denkbar sei. So wird nämlich die Stelle bei Thietmar: tramitem ad mare juxta positum et visu nimis horribile übersetzt. Eine solche Uebersetzung würde aber nur einigermassen zulässig sein, wenn die Stelle visu nimis horribilem lautete.

Dass Rethra nun an der Stelle von Belvedere nicht gelegen haben kann, dafür sprechen mehrere entscheidende Gründe. Einmal ist an der mehr oder weniger insularen Lage von Rethra, oder wenigstens des Tempels von Rethra fest zu halten. Eine Insel oder Halbinsel kann es aber bei Belvedere nie gegeben haben. – Dann sind dort auch nie Alterthümer gefunden worden, namentlich nie slavische Urnen, oder Scherben mit slavischen Ornamenten, und solche müssten doch dort, wo die vulgatissima Rethre des Chronisten gestanden hat, zu finden sein. – Endlich liegt Belvedere auch nicht in dem alten Gau der Retharier, dem Radver. Im Radver, wie der Gau der Retharier auch kurzweg genannt wird, ist aber Rethra nach den Angaben der Chronisten zu suchen.

Die Bestimmung der Grenzen des Radver ist für die Ermittelung der Lage von Rethra von besonderer Wichtigkeit.

Die Untersuchungen über die Lage und die Grenzen des Radver sind namentlich gefördert worden durch Boll8, Lisch9, und Wigger10.

Nach ihren Untersuchungen ist die Lage des Radver am deutlichsten zu erkennen aus der Stiftungsurkunde des Klosters Broda. Diese Urkunde ist ausgestellt im Jahre 1170, zwanzig Jahre nach der letzten Zerstörung Rethras, die in das Jahr 1150 fällt. Die Urkunde ist also ausgestellt zu einer Zeit, als die alte Geographie noch genugsam bekannt sein musste.

Fürst Kasimir von Pommern verschreibt in der Stiftungsurkunde dem Kloster folgende Ortschaften:

uilla Bruode, cum foro, taberna et omnibus attinentiis suis, similiter et has uillas, Wointin, Caminiz, Wolcazin, Crucowe, Michnin, Pacelin, Vilim, item Vilim Carstici, Cyrice, Wustrowe castrum cum villa. In Raduir: Podulin, Tribinowe, Wigon, Cussowe, Tuardulin, Dobre, Step, Rouene, Priulbitz, Nicakowe, Malke, Kamino, Lang, Ribike, Tsaple, Nimyrow, Malkowe, Stargard, et Lipiz, cum omnibus uillis suis usque in stagnum Woblesko et sursum Havelam usque Chotibanz, et desertas uillas, quae a Vilim inter fines Chotibanz Lipiz et Havelam jacent.

Diese Urkunde, deren Mittheilung zum Verständniss des Folgenden nothwendig war, ist mitgetheilt nach dem Abdruck bei Lisch (Mekbg. Jahrb. III. pag.11), und ist als besonders wichtig bei derselben hervorzuheben, dass in der Originalurkunde – wie Lisch sagt – „nach dem Worte villa ein Punkt steht und das folgende Wort „In“ mit einem gross und sorgfältig geschriebenen I beginnt, so dass also „In Raduir“ als Einleitung zu einer neuen Reihe von Namen an die Spitze gestellt wird.

Die in der Urkunde genannten Ortschaften existiren dem grössten Theile nach noch heute mit ihren alten Namen und liegen im Umkreise weniger Meilen um die Tollense herum.

Es sind drei Gruppen von Ortschaften deutlich zu unterscheiden.

Die in der ersten Gruppe genannten Ortschaften liegen alle westwärts von dem Tollensefluss, dem Tollenser See, dem alten Bach, (welcher früher die natürliche und einzige Verbindung zwischen Tollense und Lieps bildete), der Lieps und dem Zufluss derselben, der zwischen Hohenzieritz und Prillwitz von der Sandmühle herabkommt. Offensichtlich haben diese zusammenhängenden „Tollensegewässer“, wie sie der Kürze wegen bezeichnet sein mögen, eine geographische Grenze zwischen den Ortschaften der ersten und zweiten Gruppe gebildet. Es wird dies besonders deutlich, wenn man auf die Reihenfolge achtet, in welcher die Ortschaften aufgezählt werden. Die Ortschaften der ersten Gruppe werden von Broda aus zuerst nach Norden und dann im Bogen herum nach Süden aufgezählt. Bei der Aufzählung der Ortschaften der zweiten Gruppe, die ostwärts von den Tollensegewässern liegt, beginnt dann die Reihenfolge wieder von Norden.

Die Ortschaften der ersten Gruppe, soweit sie noch nachweisbar sind, heissen heute Broda, Weitin, Chemnitz, Woggersin, Lebbin, Kalübbe, Passentin, Wulkenzin, Krukow, Mallin?, Penzlin, Gr. Vielen, Kl. Vielen, Hohenzieritz, Wustrow. Sie liegen nach der Ansicht der meisten Forscher im früheren Lande Wustrow (dem späteren Lande Penzlin) und in der alten Provinz Tholenz.

Die zweite Reihe von Ortschaften, welche alle ostwärts von den Tollensegewässern liegen, beginnt mit den Worten: In Raduir. Es heisst also ausdrücklich von dieser Gruppe von Ortschaften, dass sie im Gau der Retharier liegen. Sie sind grösstentheils noch heute mit ihren alten Namen vorhanden.

Podulin heisst jetzt Podewall.
Tribinowe „ „ Trollenhagen?
Wigon lag wahrscheinlich im nördlichen Theile des Neubrandenburger Stadtfeldes.
Cussowe heisst jetzt Küssow.
Tuardulin „ „ Warlin.
Dobre wahrscheinlich östlich von Neubrandenburg auf Stadtfeld, untergegangen.
Step lag nachweisbar auf Neubrandenburger Feldmark, südlich von der Stadt.
Rouene heisst jetzt Rowa.
Priulbitz „ „ Prillwitz.
Nicakowe nicht nachzuweisen.
Malke nicht nachzuweisen.
Kamino heisst jetzt Cammin.
Lang nicht nachzuweisen.
Ribike heisst jetzt Riepke.
Tsaple „ „ Sabel.
Nimyrow „ „ Nemerow.
Malkowe nicht nachzuweisen.
Stargard heisst jetzt Stargard.

Alle diese Orte, so weit sie nachzuweisen sind, liegen also ostwärts von den Tollensegewässern im nordwestlichen Mecklenburg-Strelitz. Hier ist mithin unzweifelhaft das Land der Retharier, der Radver, zu suchen.

Die Westgrenze des Landes der Retharier ist durch die bezeichneten Tollensegewässer gegeben. Nordwärts reichte der Radver bis an den Landgraben, der noch heute die Grenze zwischen Mecklenburg und Pommern bildet. Jenseits des Landgrabens war Land Treptow. Wie weit nach Osten und Süden der Radver sich erstreckt haben möge, ist nicht mit Sicherheit anzugeben.

Nach Süden kann sich übrigens der Radver nicht sehr weit erstreckt haben. Hier lag das Land Lipiz, derjenige Landstrich, welcher als dritte Gruppe dem Kloster verliehen ward: „Lipiz mit allen seinen Dörfern bis zum See Woblesko (dem Woblitzsee bei Wesenberg) und die Havel aufwärts bis Chotibanz (jetzt Adamsdorf)11 und die wüsten Dörfer, welche von Vielen an zwischen den Grenzen von Chotibanz, Lipiz und der Havel liegen.“

Am schwierigsten ist es, gegen Osten die Grenze des Radver zu bestimmen. Das aber ist nach dem Wortlaut der Broda’schen Urkunde nicht zu bezweifeln, dass die Tollensegewässer gegen Westen die Grenze gebildet haben.

Die Höhe am Westufer der Tollense, auf welcher der Pavillon von Belvedere erbauet ist, lag ausserhalb der Grenzen des Radver. Hier kann Rethra nicht gelegen haben.

Das erste Ziel der Excursion, die zu Wasser ausgeführt wurde, weil man auf diese Weise alle zu untersuchenden Punkte leicht erreichen konnte, war die Fischerinsel in der Südostecke der Tollense und das gegenüber liegende Wustrow. Nach zweistündiger Fahrt über den schönen See wurde die Insel betreten.

Die kleine Insel ist niedrig, theilweise sogar sumpfig; sie ist 150 bis 180 Schritte lang, 30 bis 36 Schritte breit und umfasst dabei ein Areal von rund 6500 Quadratmetern.

Auf dieser kleinen Insel soll nach der Ansicht von Beyer der Tempel von Rethra und auch das castrum Wustrow gelegen haben. Die zu dem Tempel gehörende civitas von Rethra soll dann auf dem bei Wustrow gegenüber liegenden Festlande zu finden sein und nicht sowohl eine Stadt als vielmehr ein Tempelhain, jener von den Einwohnern unberührte und heilig gehaltene Wald Thietmars gewesen sein. Dieser heilige Tempelgau soll das ganze Land Wustrow, das spätere Land Pewzlin (Penzlin, Anm. vt), umfasst haben.

Lassen wir diesen heiligen Tempelhain ausser Acht, so ist nicht zu leugnen, dass die topographischen Verhältnisse speciell bei Wustrow manchen Angaben der Chronisten entsprechen. Ostwärts vom Festlande bei Wustrow und nahe demselben liegt eine Insel im See. Von Wustrow und von der kleinen Insel aus blickt man gegen Morgen auf den Spiegel der Tollense, des grössten Sees der ganzen Umgegend. Wer diese Verhältnisse auf der Karte betrachtet, nicht aus eigener Anschauung die ganze Gegend, die Ufer der Tollense und namentlich auch der Lieps kennt, kann sehr leicht auf die Idee kommen, Rethra müsse bei Wustrow gelegen haben. – Dass es Beyer so gegangen ist, erfahren wir von ihm selbst12. Ich glaube – sagt derselbe – dass die Burg Adams auf einer wirklichen, ringsum von tiefem Wasser umgebenen Insel lag, und zwar nach Thietmars Angabe am Westufer des Sees, so dass man aus der zu diesem hinausgehenden Pforte nach Osten schaute. Demnach suche ich die Tempelburg am Westufer des Tollenser Sees, und hier findet sich an der hinter dem Dorfe Wustrow gelegenen Insel ein in jeder Beziehung geeigneter Platz.“

Ausser der Oertlichkeit bei Wustrow giebt es nun aber noch andere Plätze, die den Angaben der Chronisten entsprechen, und von welchen man auch gegen Osten hinaus auf den Seespiegel blickt. Diese Plätze liegen an den Ufern der Lieps, und wer diese Plätze besucht, wird sich leicht überzeugen, dass auf ihnen ebenfalls die Lage von Rethra denkbar ist. Dieselbenn sollen später ganz objectiv ohne vorgefasste Meinung betrachtet werden.

Geht man aber von einer bestimmten Auffassung über die örtliche Lage von Rethra aus, so muss sich dann Alles, was sonst noch über Rethra bekannt ist, dieser Auffassung anbequemen.

Es ist oben bereits nachgewiesen worden, wo nach dem unzweifelhaften Wortlaute der Brodaschen Urkunde der Radver zu suchen ist.

Im Radver lag Rethra. Geht man von der Voraussetzung aus, Rethra habe bei Wustrow gelegen, so ist es vor allen Dingen nothwendig, nachzuweisen, Wustrow habe im Radver gelegen.

Es ist oben bei Besprechung der Brodaschen Stiftungsurkunde gezeigt worden, dass die dem Kloster verliehenen Ortschaften deutlich in drei Gruppen zerfallen. Die zweite Gruppe beginnt in der Urkunde nach einem Punkte mit einem gross und deutlich geschriebenen J und den Worten: In Raduir. Lisch, der die Urkunde selbst in den Händen gehabt hat, bemerkt, es sei ganz unzweifelhaft, dass die Worte „In Raduir“ an die Spitze einer neuen Reihe von Ortschaften gestellt seien. – Um nun Wustrow in den Radver zu bringen, verändert Beyer die Interpunktion und die Schrift (das grosse J). Er verbindet: Wustrow castrum cum villa in Raduir. Er meint, der Zuzatz Wustrow in Raduir sei hier zum Unterschiede von einem anderen Orte Wustrow, welcher südlich von Wesenberg am Rätzsee liegt, gemacht worden. Eine solche Umgestaltung des klaren Wortlautes einer Urkunde – man muss sagen einer vorgefassten Idee zu Liebe – ist mindestens doch sehr bedenklich. – Dazu kommt dann noch, dass, wenn die Lesart von Beyer richtig wäre, ein ganz sonderbarer Sprung in der Aufzählung der Ortschaften gemacht wird; auf Wustrow am Südende der Tollense folgte dann unvermittelt Podewall, oben weit nördlich der Tollense. Wenn durch die Worte „In Raduir“ nicht eine neue Gruppe von Orten abgegrenzt werden sollte, wäre es dann nicht am natürlichsten gewesen, nach Hohenzieritz und Wustrow gleich das benachbarte Prillwitz zu nennen? – Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die oben bezeichneten „Tollensegewässer“ eine geographische Grenze gebildet haben.

Liegt nun aber Wustrow nicht im Radver, so fällt jeder Grund weg, hier Rethra suchen zu wollen.

Dass man übrigens in den ersten Jahrhunderten nach der Zerstörung Rethras nicht bezweifelt hat, Rethra habe an der Ostseite der Tollensegewässer im Lande Stargard gelegen, dafür spricht eine Stelle in den handschriftlichen Aufzeichnungen des fahrenden Schülers Michael Frank13, eines Studenten der Theologie, der mehrere grosse Wanderungen gemacht hat. Bei der „Beschreibung des Mecklenburger Landes“14 heisst es u.a.:

„Item Rhetra, da noch alte Uhrkundt und rudera einer feinen Stadt vorhanden, allda auch ein Tempel des Abgottes Radagast gewesen; diese Stadt soll sieben feste Thor gehabt haben, auch mit tifen Graben und Mauern wohl verwahret, soll gelegen sein in dem stargartischen Lande nicht weit von einem grossen See.“

Grabungen, die auf der Fischerinsel bei Wustrow leider bei der Excursion nicht vorgenommen werden konnten, weil die Arbeiter nicht rechtzeitig zur Stelle waren, die aber später mehrfach nachgeholt worden sind, haben gar keine Resultate ergeben. Es sind weder slavische noch mittelalterliche Reste gefunden worden.

Nach Allem hat sich die Ueberzeugung Geltung verschaffen müssen, dass Rethra an der Stelle oder in der Umgegend von Wustrow nicht gelegen haben könne. Der Besuch der Gegend war aber doch nicht ohne Interesse.

Schon während der Fahrt auf der Tollense winkte von der ansehnlichen Höhe hinter Wustrow ein grosses, noch ziemlich wohl erhaltenes, Kegelgrab herüber. Der Besitzer von Wustrow, Hr. Baron von Maltzan, hatte die Aufgrabung des Kegels gestattet, und waren dazu alle Vorbereitungen getroffen worden. Allein als man auf der Höhe angelangt war, wurde es sofort klar, dass man für heute von der Oeffnung des Grabes abstehen müsse. Das Grab, welches am unteren Rande noch mit einigen Steinen umstellt ist, hat eine Höhe von etwa 4 bis 5 Metern und einen Umfang von etwa 30 bis 35 Metern. Zur Oeffnung desselben wären 1 bis 2 volle Tage erforderlich gewesen. Bei dem ferneren, für den Tag entworfenen Programm war an eine Grabung hier nicht zu denken.

Von diesem Kegelgrabe begab sich nun ein Theil der Gesellschaft nach zwei anderen, weiter entfernt liegenden Hügeln. Der grösste Theil des Weges dorthin führte bergauf bergab über schweren, durch langen Regen aufgeweichten, frisch umgebrochenen Acker. Wer nicht mit festem, wasserdichtem Schuhzeug versehen war, sah sich gezwungen, diese Expedition aufzugeben. – Die beiden Hügel sind später, am 20. August, von Neubrandenburg aus noch einmal besucht worden und sind bei der Gelegenheit die gleich anzugebenden Maasse ermittelt worden.

Die blosse Besichtigung lässt nicht mit Sicherheit erkennen, ob die Hügel nicht etwa ganz oder wenigstens doch theilweise durch die Natur gebildet sind. Der kleinere Hügel hat einen Durchmesser von 70 Fuss und mag etwa 220 bis 230 Fuss im Umkreise messen. Seine Basis ist rund und hat derselbe ganz die Form der Kegelgräber. – Der grössere Hügel dürfte bestimmt dem grössten Theile nach eine natürliche Bildung sein. Er ist auf der Höhe 100 Schritte lang und 15 Schritte breit; seine südliche Langseite geht unmittelbar in ein tief liegendes Thal über. An dem westlichen Ende des langgestreckten Rückens liegt eine ganze Anzahl grosser Geschiebeblöcke in ziemlich regelmässiger Lage. Dass diese eine alte Grabstelle umschliessen, ist möglich.

Der Theil der Gesellschaft, welcher die Expedition nach den Hügeln hatte aufgeben müssen, schiffte sich wieder ein und besuchte eine alte Pfahlstellung in der Lieps. Die Pfähle sind kurz über dem Grunde vermorscht und abgebrochen. Sie waren in dem trüben Wasser der Lieps, obschon dieselbe hier nur etwa 3 Fuss tief ist, nicht zu sehen, konnten nur durch Sondiren mit den Rudern aufgefunden werden. Ihre Stellung wurde dann durch nebengesteckte Zweige markirt. Die Pfähle stehen in einer graden Reihe; eine Doppelstellung wie bei einer Brücke ist nicht vorhanden. Die Reihe der Pfähle beginnt an der Mündung des „alten Grabens“ (einer künstlichen Verbindung zwischen Tollense und Lieps), und zieht sich in einer Linie mit dem Westufer des alten Grabens bis nach einer kleinen unbedeutenden Insel (von den Fischern Heidesruhe genannt) hin. An dieser Pfahlstellung wurden in einem Boote zwei Leute zurückgelassen mit der Weisung, in der Nähe der Pfähle Proben vom Grunde des Sees heraus zu baggern.

In dem Baggerschlamme haben sich ausser zahlreichen Conchylien nur bearbeitete Holztheile, zugespitzte durch Moder geschwärzte Pfahlenden und ebenso beschaffene Bruchstücke von Zweigen und Ruthen vorgefunden. Das Holz rührt theils von Elsen, theils von Weiden her. Die Zweigreste sind alle gewunden, als hätten sie einem Flechtwerk angehört. Wahrscheinlich ist hier bei Anlage des alten Grabens durch Verzäunung und Flechtwerk eine Art Buhne als Schutz gegen Verschlammung des Grabens angelegt worden. Eine Zeitbestimmung dieser Anlage, da keine Alterthümer gefunden wurden, ist unmöglich.

Nachdem die Gesellschaft an der Wustrower Ziegelei sich dann wieder vereinigt hatte, wurde die Fahrt bis Prillwitz fortgesetzt, und hier zunächst ein Rundgang durch den Grossherzoglichen Schlossgarten und das Dorf unternommen, um ein Bild der ganzen Oertlichkeit zu gewinnen. Das feste Terrain, auf dem das Dorf Prillwitz und der Schlossgarten liegt, ist begrenzt theilweise vom See, der sogenannten Lieps, theilweise von grossen Wiesenflächen, zwischen denen nur ein schmaler fester Zugang nach Prillwitz hineinführt. Die Wiesen sind theilweise sehr sumpfig, theilweise bildet die Grasnarbe auch nur eine auf dem Wasser schwimmende Decke. Der Fischereipächter, Hr. Melz, welcher die Gesellschaft als kundiger Wegweiser begleitete, zeigte eine mitten in der Lieps festsitzende kleine Insel, die im letzten Winter durch Abreissen von dem schwimmenden Prillwitzer Wiesenplane entstanden war. Es leidet keinen Zweifel, dass die Prillwitzer Wiesen nach und nach durch Zuwachsen entstanden sind, und dass das ganze Terrain von Prillwitz bis auf die schmale feste Verbindung früher von Wasser umflossen war.

Nach Süden zu erhebt sich die Erdscholle, auf der Prillwitz liegt, zu einer ziemlich steil ansteigenden kleinen Anhöhe, dem alten Schlossberge (Ritterberge). An dieser Stelle hat im Mittelalter eine Burg der Familie Peckatel gestanden. Man sieht noch altes Gemäuer und die den Berg umziehenden Wallgräben.

Im Allgemeinen ist nicht zu leugnen, dass das Terrain von Prillwitz den Angaben bei Thietmar entspricht; und Thietmar’s Angaben scheinen die zuverlässigeren zu sein. Er giebt einfach an, Rethra habe drei Thore gehabt. Adam’s Angabe von neun Thoren und dem neunfachen Styx klingt entschieden nach poetischer Ausschmückung. Drei Thore sind naturgemäss auf dem Terrain bei Prillwitz zu construiren. Das erste Thor führte auf dem schmalen Strich festen Bodens von Süden her in den Ort hinein. Von Westen oder Nordwesten her, von Zippelow, wo jetzt ein aufgeschütteter Damm die Verbindung vermittelt, hat es noch in ziemlich neuer Zeit nur eine auf Pfählen ruhende Holzüberbrückung gegeben. Hier müsste also das zweite Thor gelegen haben. Das dritte Thor, welches gegen Morgen hinausblickte, führte dann nur an den See und zum Heiligthume (fanum), vermittelte keine Verbindung nach aussen.

Der Eindruck, dass auf der Stelle von Prillwitz Rethra könne gelegen haben, ist sehr vielen Besuchern dieser Gegend geworden. So z.B. sagt Lisch15: „ich habe bei einer persönlichen Untersuchung an Ort und Stelle die Localität von Prillwitz so überraschend und sowohl in den grossartigen Ausdehnungen, als in den kleinsten Einzelheiten so übereinstimmend mit den alten Berichten gefunden, dass ich keinen Augenblick zweifele: Prillwitz sei die Stelle von Rethra. …..

Als eine grosse Merkwürdigkeit aber muss es angesehen werden, dass auf den erhabensten Stellen von Prillwitz, auf dem mit tiefen Wiesen umgebenen Plateau, namentlich in den Pfarrgärten und in dem fürstlichen Garten eine so grosse Masse von blaugrauen Scherben von mittelalterlichen Gefässen gefunden wird, dass sie wahrhaft in Erstaunen setzt. … Zwei angestellte Proben lohnten … mit einer Hand voll Scherben, welche denen in den sogenannten Wendenkirchhöfen ähnlich waren, zumal da einige ganz charakteristische Verzierungen hatten.“ Demnach hätte Lisch also Scherben mit slavischen Ornamenten gefunden.

Seitens der Theilnehmer der Exkursion ist nun auch mehrfach unten am Schlossberge im fürstlichen Garten, sowie auch im Pfarrgarten gegraben worden. Man war nicht so glücklich im Pfarrgarten irgend etwas zu finden. Was im fürstlichen Schlossgarten zu Tage gefördert wurde, waren mittelalterliche blaugraue Scherben. Scherben mit slavischen Ornamenten wurden nicht gefunden16.

Directe Beweise einer slavischen Ansiedelung sind demnach bei der Exkursion nicht gefunden worden. Allein der Name Prillwitz, der entschieden slavischen Ursprunges ist, kann als sicherer Beweis dafür dienen, dass Slaven hier angesiedelt waren.

Aus dem Umstande, dass der Ort zwanzig Jahre nach der Zerstörung von Rethra den slavischen Namen Prillwitz trägt, hat Buchholz, Pastor zu Lychen, in einer anonymen Schrift17, die gegen die Ausführungen von Masch gerichtet ist, zu deduciren gesucht, dass Rethra nicht an der Stelle von Prillwitz gesucht werden könne. „Es ist unbegreiflich“ – sagt er – „dass die Sachsen, wenn sie an der Stelle von Rhetra eine neue Festung bauen, und den alten wendischen Namen nicht behalten wollen, dieselbe mit einem neuen Namen aus eben der Sprache sollen belegt haben. Das war wider ihre Gewohnheit; wo ihnen das Wendische nicht gefiel, da gaben sie deutsche Namen.“ Wenn in der Brodaschen Urkunde zwanzig Jahre nach der Zerstörung von Rethra ein Ort mit dem wendischen Namen Prillwitz genannt wird, so muss es allerdings Bedenken erregen, wie derselben Ort zwanzig Jahre früher den wendischen Namen Rethra geführt haben könne.

Es dürfte nicht uninteressant sein, hier auf eine Bemerkung von Sponholz18 aufmerksam zu machen. „Ῥήτρα – sagt derselbe – heisst: Ausspruch, Götter-, Orakelspruch. Wie, wenn unsere Chronisten das, in der ihnen zugekommenen Schilderung der Redarier-Stadt, ihnen Bedeutungsvollste: „dort war das Orakel der Ungläubigen“ in der ihnen geläufigen griechischen Sprache bezeichneten, den wichtigsten Gegenstand in der Stadt zum Namen derselben machten?“ Will man eine solche Erklärung acceptiren, dann liesse sich Prillwitz, als Ort, mit dem Heiligthume, dem Orakelplatz Rethra, ohne Schwierigkeit vereinigen. – Beachtenswerth ist dabei dann noch, wie durch eine solche Annahme die verschiedenen Angaben der Chronisten einigermaassen sich decken; während der eine das Heiligthum, wo das Orakel ist, nach dem dort verehrten Götzen (Riedegost) benennt, wird es von dem anderen ganz allgemein nur als der heilige Orakelplatz oder Tempelplatz bezeichnet19.

Darauf mag schliesslich noch hingewiesen werden, dass der älteste bekannte Rethraforscher, Latomus, auch bei Prillwitz die Stelle von Rethra sucht. Konnte zu seiner Zeit, fünf Jahrhunderte nach der Zerstörung, sich noch eine Tradition über die Lage von Rethra erhalten haben?

Nachdem man im Schlossgarten unter schönen alten Bäumen am Ufer des Sees das mitgebrachte Mahl verzehrt hatte, wurde unter Führung des Hrn. Pastor Jacobi im Pfarrgarten die Stelle besichtigt, an welcher angeblich die fraglichen Prillwitzer Idole gefunden sein sollen. Die Stelle liegt hinter dem Pfarrhofe unfern von dem hier flachen Seeufer.

Nun drängte die Zeit zur Fortsetzung der Exkursion. Es handelte sich für den rest des Tages noch darum, die von Boll für Rethra in Anspruch genommenen Orte aufzusuchen.

Nach Boll’s20 Ansicht entspricht die tief in die Lieps einschneidende, Prillwitz gegenüber liegende Halbinsel allen Angaben der Chronisten, „Ich wurde zuerst auf diese Lokalität aufmerksam – sagt Boll – als ich erfuhr, dass auf der kleinen in der Lieps gelegenen Insel, dem sogenannten Hanfwerder, eine grosse Menge eiserner Alterthümer gefunden wären.“ Nach einer Mittheilung des Usadelschen Müllers, welcher den Hanfwerder in Pacht hatte, waren dort viele Thierknochen von ungewöhnlicher Stärke ausgeackert, auch hatte man beim Ziehen eines Grabens eine grosse Menge von Hirschgeweihen gefunden. Eiserne Alterthümer waren nach der Aussage des Müllers wohl ein Scheffelstheil gefunden worden, darunter besonders viele Barbirmesser, Scheeren, den Schafscheeren ähnlich, Hufeisen, Lanzenspitzen u. dergl. Boll konnte von diesen Dingen noch eine Lanzenspitze, ein Hufeisen und einen sehr kleinen Dreifuss acquiriren.

Die Halbinsel des Liepsbruches entspricht nun unzweifelhaft in vielen Punkten den Angaben der Chronisten. Die Halbinsel, die nicht durchweg Bruch oder Wiese ist, sondern mehrere feste, sehr wohl bewohnbare, grosse Horste einschliesst, hat eine vollkommen dreieckige Gestalt. Sie kann von zwei Seiten allgemein zugänglich gewesen sein, – von Westen, von Wustrow her über den alten Bach und den alten Graben, – von Osten her über den Nonnenbach und den neuen Graben. Letzterer stammt allerdings aus verhältnissmässig neuerer Zeit, aber das Liepsbruch war abgesehen davon in früherer Zeit dennoch von beiden Seiten nur durch Brückenanlagen zugänglich. An der Wustrower Seite liegt noch heute in der Wiese gegen den alten Bach zu eine Doppelreihe von grossen Geschiebeblöcken. Etwa von 10 zu 10 Schritten stösst man auf eine solche doppelte Steinstellung. Diese Steine können kaum zu etwas anderem als zur Unterlage einer Holzbrücke durch die Wiese gedient haben. – Das dritte Thor von Rethra wäre dann am Ostufer der Halbinsel zu suchen. Hier fällt der Blick gegen Morgen auf den See und auf den gegenüberliegenden Hanfwerder.

Nach dem Programm der Exkursion wurde zunächst der Hanfwerder21 besucht. Die kleine Insel ist 20988 qm gross und hat eine dreieckige Gestalt. Der grösste Theil derselben ist Wiese; an zwei Stellen ist festerer Boden, der früher beackert wurde, jetzt zur Heuwerbung und Weide dient. Die Exkursion landete an dem grösseren Horst, der an verschiedenen Stellen angegraben wurde. Boll, der hier auch schon Nachgrabungen angestellt hatte, stiess überall in der Erde etwa einen Spaten tief auf einen Steindamm, der sich unter der ganzen Insel hinzuziehen schien. Aus dem aufgeworfenen Erdreich kamen gebrannte Lehmmassen und Urnenscherben mit slavischen Ornamenten zum Vorschein.

Dieser Befund ist durch die Exkursion im Allgemeinen bestätigt worden. Etwa 1 1/2 Fuss tief in der Erde stiess man auf Steindämme. Dieselben machten aber nicht den Eindruck einer unter der ganzen Insel fortlaufenden Pflasterung, sondern es schienen vielmehr die Steindämme einzelner Herdstellen zu bezeichnen. Einige Steine schienen vom Feuer geschwärzt; manche waren mürbe und zerbröckelten leicht. Sie schienen durch Feuer vermürbt zu sein. Von gebrannten Lehmmassen wurden viele Proben gefunden. Ueberall fanden sich Urnenscherben, die theils glatt waren, theils slavische Ornamente zeigten. Thierknochen wurden in grosser Menge gefunden. Theilweise waren dieselben zerschlagen, offenbar um die Markhöhle zu öffnen. Einer von diesen Knochen hatte in der Mitte der Länge ein kleines rundes Loch, war künstlich durchbohrt.

Alle diese Sachen sind nur auf dem festeren Terrain des Hanfwerders gefunden worden. Nachgrabungen in dem tiefer gelegenen Wiesenterrain waren ohne Erfolg.

Im Neubrandenburger Museum wird von den Funden, die auf dem Hanfwerder gemacht sind, Nachstehendes aufbewahrt:

eine eiserne Scheere,

eine Hacke von Hirschhorn,

ein künstlich durchbohrter kleiner Knochen, (s. Abbildung),

zahlreiche Urnenscherben mit slav. Ornament,

Proben der Branderde,

zahlreiche Knochen vom Rind, theilweise zerschlagen, um die Markhöhle zu öffnen,

Knochen vom Schaf,

Zähne vom Schwein,

ein Vogelknochen.

Die Untersuchung des Hanfwerders hat unzweifelhaft dargethan, dass derselbe während der Slavenzeit ein viel benutzter Wohnplatz gewesen ist.

Leider konnte wegen vorgerückter Tageszeit die Untersuchung des Liepsbruches nicht mehr in Angriff genommen werden. Da unserer Berliner Gäste noch den Abendzug zur Heimreise benutzen wollten, war es höchste Zeit, den Rückweg anzutreten.

Es ist dann später von Neubrandenburg aus speciell nach dem Liepsbruche noch eine Exkursion unternommen worden. Das Bruch wurde von Osten her betreten, und wurde die Untersuchung den sogenannten Horsten, den festen Stellen zwischen den theilweise recht sumpfigen Wiesen, zugewendet. Nach Ueberschreitung des Nonnenbaches gelangte man zunächst nach dem „Leinhorst.“ Derselbe war grösstentheils zur Wegebesserung abgegraben, und unterblieb deshalb hier die Untersuchung. – Nach Ueberschreitung des neuen Grabens gelangte man dann nach dem „kleinen Horst“. Derselbe liegt am östlichen Ufer der Halbinsel und ist 26476 qm gross. Von hier aus blickt man gegen Osten auf den See und den gegenüber liegenden Hanfwerder. Diese Lage des Horstes forderte zu eingehender Untersuchung auf. Es wurde deshalb an vielen Stellen gegraben, nach der Mitte der Halbinsel zu und am Seeufer. Das Ergebnis war wieder Erwarten ein sehr dürftiges. Die ganze Ausbeute bestand in einem Rinderknochen, einer mittelalterlichen Topfscherbe und einigen Scherben eines Topfes der Neuzeit. – Demnächst wurde dann der „grosse Horst“ betreten. Derselbe reicht durch die ganze Breite der Halbinsel vom Ost- bis zum Westufer, und ist er 45210 qm gross. Er war an mehreren Stellen von der Grasnarbe entblösst, so dass sich diese Stellen leicht durchsuchen liessen. Gefunden wurde nichts.

Endlich wurde dann noch der an der Spitze der Halbinsel liegende „Bacherswall“ durchsucht. Er ist 1128 qm gross. Boll giebt an, dass er ihn muldenförmig vertieft gefunden habe. Es konnte nur noch in der Mitte eine seichte Rinne bemerkt werden. Da er seit Jahren zum Kartoffelbau gedient hat, wird seine Oberfläche durch die Spatenkultur wesentlich eine andere geworden sein. Mehrere tiefe Grabungen, die hier vorgenommen wurden, brachten eine Brandstelle mit Kohlen, Asche und Branderde und eine einzige Urnenscherbe zu Tage, die glatt, d.h. ohne alle Ornamente war.

Spuren einer grösseren Ansiedelung im Liepsbruche sind demnach nicht gefunden worden.

Mit einem endgültigen Urtheil über die Lage von Rethra ist zur Zeit noch zurückzuhalten. Die Untersuchungen können noch nicht als geschlossen angesehen werden, namentlich müssten diese noch auf den Kietzwerder in der Lieps, sowie auf den Wantzka’er und Rödliner See sich erstrecken, welche beiden Seen ohne Zweifel noch innerhalb der Grenzen des Raduir liegen. Es ist auch der Hanfwerder noch einmal zu besuchen. Die nach der neuesten Vermessung mitgetheilte Karte desselben, die erst in der letzten Zeit eingesehen werden konnte, zeigt an der Ostseite der kleinen dreieckigen Insel einen gegen Morgen schauenden Horst. Dieser ist noch zu untersuchen, da er leider bei der Exkursion nicht betreten wurde. Das Vorhandensein desselben war allen Theilnehmern damals unbekannt.

Dass Rethra sollte im Carwitzer See gelegen haben, hat keine Wahrscheinlichkeit für sich. Nach Beyer sollen die Inseln im Carwitzer See schon im Lande der Ukrer gelegen haben. Die Grenze mag streitig sein. Wenn man aber bedenkt, dass zwischen dem Lande der Ukrer und dem Radver noch das Land der Riezaner, oder Rezener, lag, so kann der Radver, in dem Rethra zu suchen ist, nach Osten sich kaum bis in die Gegend von Feldberg erstreckt haben. Lisch22 führt mehrere Urkunden an, in denen die Volksstämme immer in derselben Reihenfolge genannt werden, so anno 965 Ucrani, Riezani, Riedere, Tolensane Zercepani; anno 973 Ucran, Rezem, Riedere, Tolensani, Zircipani; 975 Ucrani, Ritzani, Ridera, Tolensane, Zerespani. In alten Urkunden werden die Volksstämme regelmässig in der Reihenfolge aufgezählt, wie sie geographisch grenzen. Demnach kann es nicht bezweifelt werden, dass der Volksstamm der Riezaner zwischen dem Lande der Ukrer und dem Radver seine Wohnsitze hatte.

Damit stimmen denn auch die Ermittelungen von Böttger23 überein. Nach demselben gehören zum Gau der Rezener nachweisbar in Meklenburg die Orte: Konow, Feldberg, Läven, Carwitz, Triepkendorf, Gnewitz, Dabelow, Godendorf, Buchholz, Dannenwalde, Ringsleben, Tornow, und in Preussen Ruthenberg, Alt-Thymen, Storkow, Hammelspring, Templin, Milmersdorf, Klosterwalde, Jacobshagen, Rosenow.

Auch nach Wigger24 lag Feldberg schon nicht mehr im Radver. Demnach können die weiter östlich liegenden Inseln im Carwitzer See noch weniger dazu gehört haben.

Nach Kühnel25 bedeutet der Name Riezaner oder Rezener „Flussanwohner“, und es ist allerdings der ganze Landstrich, wie er von Böttger abgegrenzt wird, reich an grösseren und kleineren Seen, die durch Flussläufe verbunden sind.

Schliesslich sei noch erwähnt, dass einige sehr beachtenswerthe Fingerzeige für die Lage von Rethra durch die Nachrichten über die Kämpfe gegeben werden, welche 1059 zwischen den einzelnen Stämmen der Wilzen oder Leuticier (nach Adam von Bremen) de nobilitate potentiaque entstanden waren26. Auf der einen Seite kämpften die Kissiner und Circipaner; auf der anderen die Tholenzer und Redarier. Von letzteren beiden Volksstämmen berichtet dann Helmold: regnare volebant propter antiquissimam urbem et celeberrimum illud fanum, in quo simulacrum Radigost ostenditur, adscribentes sibi singularem nobilitatis honorem eo, quod ab omnibus populis Slavorum frequentarentur propter responsa et annuas sacrificiorum impensiones. Demnach ist anzunehmen, dass das gemeinschaftlich vertheidigte celeberrimum fanum auch ein den verbündeten Tholenzern und Radariern gemeinschaftliches war, und dürfte daraus zu schließen sein, dass es demgemäss an der Grenze ihrer Gaue gelegen hat. Schwerlich lag das gemeinschaftlich vertheidigte fanum an den Grenzen der Riezaner oder Ukrer.

Nach Allem bleibt in Bezug auf die Lage von Rethra einstweilen noch immer das Wahrscheinlichste, dass es an der Lieps gelegen hat. Sollten sich am Wantzkaer oder Rödliner See nicht etwa ganz unzweideutige Spuren auffinden, so kann man mit Bestimmtheit aussprechen, dass Rethra an der Lieps gelegen hat. Dieser See ist auch von allen Wasserbecken, die in Betracht kommen können, der grösste, ihn konnte der Chronist am ersten noch ein „mare“ nennen. An den Ufern der Lieps kann dann in erster Linie nur Prillwitz und dann Hanfwerder-Liepsbruch in Frage kommen.

Hr. Voss bemerkt dazu, dass er, soweit er Augenzeuge gewesen, obigen Bericht über die Excursion in Allem nur bestättigen könne. Auch darin stimme er bei, dass die Oertlichkeit von Prillwitz, sowohl der Terrainbildung als der insularen Lage nach wohl geeignet erscheine, einstmals einem bedeutendem Heiligthume als Sitz gedient zu haben. Allerdings sei die Bestättigung dieser Vermuthung durch entsprechende Funde vorläufig noch abzuwarten. Jedenfalls aber seien die anderen durch Funde constatirten Niederlassungen auf den flachen Seeinseln, auf dem Hanfwerder, sowie auf den Inseln des Carwitzer Sees wohl einst von grösserer Bedeutung gewesen als jene auf den ähnlich formirten Inseln der Oberspree, dem Rohrwall bei Schmöckwitz, der Liebesinsel bei Treptow u.s.w.

Brückner, Ludwig: Bericht über eine Excursion nach denjenigen Uferpunkten der Tollense und Lieps, an welchen die Lage von Rethra gesucht worden ist, in: Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 15, Sitzung am 20. Januar 1883 S. 34-48

Digitalisiert durch: rethra.wordpress.com

1 F. Th. Sponholz: Wo lag Rhetra? Versuch einer historisch-kritischen Beantwortung dieser Frage. Neubrandenburg 1861.

2 Beyer in Jahrb. des Vereins f. Meklbg. Gesch. u. Alterthumskunde: Bd. 30, S. 134 ff. Seitenblicke auf Rethra und Arkona. Bd. 37, S. 55 ff.: Die Landwehren und Grenzheiligthümer des Landes der Redarier.

3 Dasselbe, als Manuscript lange unbekannt geblieben, ist abgedruckt in Westphalen Monumenta inedita. Bd. 4.

4 Die gottesdienstlichen Alterthümer der Obotriten aus dem Tempel zu Rhetra am Tollenzer See. Berlin 1771.

5 Jahrbücher des Vereins f. Meklbg. Gesch. u. Alterthumskunde. Bd. III, S. 21 ff.

6 Fr. Boll: Ueber die Lage von Rhetra bei Prilwitz und über die sogen. Prilwitzer Idole; in Archiv f. Landeskunde in d. Grossherzogth. Meklbg. Jahrg. 1853, S. 40 ff.
Franz Boll, Pastor an St. Johannis, Chronik der Vorderstadt Neubrandenburg (Neubrandenburg 1875) S. 296.

7 Sponholz a.a.O. S. 36.

8 F.Boll: Gesch. d. Landes Stargard. Thl. I, S. 17 ff.

9 Lisch: Jahrb. d. Vereins f. Mklbg. Gesch. u. Alterthumskunde. Thl. III, S. 11 ff.

10 Dr. Friedr. Wigger: Meklenburgische Annalen bis zum Jahre 1066. (Schwerin 1860.) S. 120.

11 Nach P. Kühnel, Gymnasiallehrer in Neubrandenburg: Die slavischen Ortsnamen in Meklenburg (in Jahrb. d. Vereins f. Mklbg. Gesch. u. Alterthumskunde. 1881. S. 21) heisst d. Ort 1170 Chotibanz, 1182 Chotebanz, 1244 Chotibanz; später 1460 Kostall, 1473 Kostal. Traditionell ist der Ort Koschwanz, Kuhschwanz, und bis 1815 officiel Kostall, Kuhstall genannt worden. Der Name Kostall kommt zuerst 1640 (1460 ? Anm. vt), also nach der Deutschen Besiedelung vor. Ob da die gegebene Ableitung von altslav. Kostelŭ, Kastell, Thurm, poln. Košciol, Kirche, Tempel und die Deutung “Kirchort” richtig ist, scheint doch fraglich. War einmal Chotibanz in Koschwanz corrumpirt, scheint bei deutschen Bewohnern der Uebergang in Kostall mit der Bedeutung Kuhstall doch das Wahrscheinlichere. – Nach 1812 taufte der Besitzer das Gut um in Adamsdorf zum Andenken an einen in Russland gebliebenen Sohn.

12 Jahrb. d. Vereins f. Mklbg. Gesch. u. Alterthumskunde. Bd. 32, S. 136.

13 Seine handschriftlichen Aufzeichnungen befinden sich in der Rathsbibliothek der Stadt Zittau. Abgedruckt ist aus denselben in den Baltischen Studien Jahrgang 1880, S. 57 ff.: Wanderung eines fahrenden Schülers durch Pommern und Meklenburg anno 1590.

14 a.a.O. S. 82.

15 Jahrb. d. Vereins f. Mklbg. Gesch. u. Alterthumskunde. Bd. III, S. 21.

16 Hr. Inspector Engholm zu Prillwitz hat kürzlich eine grosse Menge von Scherben eingesandt, die beim Umbau des Pferdestalles ausgegraben wurden. Es sind durchweg

17 Rhetra und dessen Götzen. Sendschreiben eines Märkers an einen Meklenburger über die zu Prillwitz gefundenen wendischen Alterthümer. Bützow und Wismar 1773.

18 a.a.O. S. 39.

19 Kühnel a.a.O. S. 116 leitet Rethra von dem altslav. rati, Krieg, ab und soll nach Schafarik ratara Kriegstempel bedeuten.

20 Archiv für Landeskunde in dem Grossherzogthum Meklenburg. Jahrgang 1853, S. 67.

21 Die beiliegende Zeichnung des Hanfwerders stimmt genau mit der Neubrandenburger Flurkarte.

22 Jahrb. d. Vereins f. Meklenb. Geschichte und Alterthumskunde. Bd. III, S. 8.

23 Dr. Heinrich Böttger: Diöcesan- und Gau-Grenzen Norddeutschlands. Halle 1875. Theil IV, S. 78, 79.

24 Dr. Friedr. Wigger: Meklenburgische Annalen. S. 120. Schwerin 1860.

25 P. Kühnel: Die slavischen Ortsnamen in Meklenburg. Jahrb. f. Mklbg. Gesch. etc. III, S. 119.

26 Vergl. d. Auszüge bei Wigger in Mklbg. Annalen. S. 82 und 83.

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